Eine schlimme Entgleisung

Standort-Bereinigung Der kanadische Bombardier-Konzern kehrt Sachsen-Anhalt den Rücken

Eine Stadt ist außer sich. Der Waggonbau Halle-Ammendorf in Sachsen-Anhalt soll geschlossen werden. Das Management des kanadischen Bombardier-Konzerns, nach der Fusion mit dem deutschen Konkurrenten Adtranz, unangefochtene Nummer eins in der Schienenfahrzeugbranche, will das Werk in der Saalestadt Mitte 2002 dicht machen. Seitdem ist vom "industriellen Supergau" einer ganzen Region die Rede. Der Betrieb ist größter industrieller Arbeitgeber in der von den Folgen des Strukturwandels gezeichneten Stadt. Rund 900 Menschen droht die Kündigung - 500 kleine Firmen sind existenziell auf Bombardier angewiesen.

Dieser Betrieb, Anfang des vergangenen Jahrhunderts vom Unternehmer Gottfried Lindner gegründet, hat im anhaltinischen Halle Industriegeschichte geschrieben. Besonders im Stadtteil Ammendorf gibt es kaum eine Familie, die in Vergangenheit oder Gegenwart nicht mit dem Bahntechnik-Spezialisten verbunden war oder noch ist. "Wo Tradition und Zukunft mit einem Schlag beendet werden sollen, da endet auch die Leidensfähigkeit einer Stadt", müht sich Oberbürgermeisterin Ingrid Häußler, die Dramatik des Geschehens in Worte zu kleiden. Die Personalstärke sei seit der Wende von 4.700 Mitarbeitern immer mehr geschrumpft. "Wenn jetzt Bombardier Ammendorf vom Markt abkoppeln und aufs Abstellgleis schieben will, sagen wir: Bis hierher und nicht weiter", gibt sich die SPD-Politikerin kämpferisch. Hans-Joachim Ratsch, Mitglied des Ammendorfer Betriebsrates, fühlt sich "verraten und verkauft", nennt die Entscheidung von Bombardier bildhaft eine "schlimme Entgleisung".

Beeindruckender Innovationsschub: Roll-out, Lachsbrötchen und Sekt

Der Frust ist verständlich. In einem Kraftakt sondergleichen hat sich die Belegschaft von der jahrzehntelangen, einseitigen Ausrichtung auf den einstigen sowjetischen Markt gelöst. Tausende der grün-lackierten Weitstrecken-Waggons, die heute noch wichtigstes Massenverkehrsmittel in Russland und in den GUS-Ländern sind, wurden in Ammendorf auf die Schienen gestellt. Als der einstige Hauptkunde mit Eintritt der Ostdeutschen in die Marktwirtschaft nicht mehr zahlen konnte, rächte sich Ammendorfs industrielle Monokultur.

Politiker aller Couleur gaben sich in diesen schwierigen Zeiten Anfang der neunziger Jahre im Werk die Klinke in die Hand. Sie versprachen vieles, hielten wenig, rieten den Waggonbauern aber unisono: "Macht euch mit neuen, wettbewerbsfähigen Produkten unabhängig von den Russen, dann habt ihr eine Chance!"

Mehr als 200 Millionen Mark investierte die Deutsche Waggonbau AG, zu der das Werk viele Jahre gehörte, in den Standort. Vom "modernsten Werk der Branche in Europa" war häufig die Rede, wenn das Roll-out eines neuen Fahrzeugs mit Lachsbrötchen und Sekt gefeiert wurde. Konstrukteure, Ingenieure und die Leute im Blaumann - sie alle stellten unter Beweis, wozu sie in der Lage waren. Im wahrsten Sinne des Wortes, Zug um Zug wurden eingefahrene Gleise verlassen und die Sortimente erneuert. "Wie dieser Betrieb in nur wenigen Jahren den Spurwechsel geschafft hat, das war sensationell", zeigt sich Günter Meißner, Chef der IG Metall Halle, vom "Innovationsschub" beeindruckt. Ob S-Bahnen für Berlin oder die Expo-Stadt Hannover, Züge für den ICE, das Aushängeschild der Deutschen Bahn oder den eleganten Neigetechnik-Express - die Ammendorfer Waggonbauer schienen auf einem hart umkämpften Markt die Kurve zu kriegen.

"Bombardier" - europaweit und schlank

Mit seiner neuen "Strategie für einen europäischen Fertigungsverbund von Schienenfahrzeugen" will der kanadische Konzern Bombardier Transportation im nächsten Jahr sein Produktionsprofil straffen und Absatzverlusten zuvorkommen. Dem Standortabbau werden neben Halle auch Werke in Vetschau und Doncaster (Großbritannien) zum Opfer fallen. Das europäische Bombardier-Netz wird dann nach Ländern geordnet folgende Struktur haben:

Deutschland: Siegen (Drehgestelle), Bautzen, Görlitz (Wagenkästen), Aachen, Hennigsdorf (Drehgestelle), Bautzen (Straßenbahnen), Mannheim (Waggons)

Belgien: Crespin (Drehgestelle), Brügge (Wagenkästen), Derby (Wagenkästen)

Großbritannien: Derby (Drehgestelle), Wakefield (Waggons, Endmontage)

Polen: Pafawag (Drehgestellrahmen)

Tschechien: Ceska Lipa (Straßenbahnen)

Dänemark: Kopenhagen (Nina-II-Fahrzeuge)

Gleichwohl mussten sie zwischendurch immer wieder Nackenschläge hinnehmen. So rollten mit bedrückender Regelmäßigkeit Entlassungswellen über das Werk hinweg. Ein um das andere Mal wehrten sich die Beschäftigten gegen "Personalanpassungen". Demonstrationen gehörten zum Bild in Ammendorf wie funkelnagelneue Waggons. Mit dem Einstieg des weltweit agierenden Bombardier-Konzerns - so glaubten viele - werde man sich wohl endlich in ruhigeren Bahnen bewegen. Es war eine trügerische Hoffnung.

Als Bombardier-Manager Joachim Gaissert Mitte des Monats in der großen Ammendorfer Montagehalle die Belegschaft über das besiegelte Aus ihres Standortes informierte, kehrten ihm die verbitterten Waggonbauer demonstrativ den Rücken zu. Das hallesche Werk sei nur zu 25 Prozent ausgelastet, begründete der Europa-Chef Produktion des Konzerns die Schließungsabsichten. Eine Zahl, der Betriebsrat und IG Metall vehement widersprechen. Nach ihren Berechnungen verfügt Ammendorf über genau so viele Aufträge wie das Bombardier-Werk im brandenburgischen Hennigsdorf.

Düpierte Landesregierung: Tatenlos, naiv und trotzdem spendabel

Übrigens richtet sich der Zorn der Hallenser beileibe nicht nur gegen Bombardier. Auch die Landesregierung gerät zunehmend unter Beschuss. Ministerpräsident Reinhard Höppner (SPD) - so Vorwürfe nicht nur der Opposition, sondern auch von Kammern und Verbänden - habe "tatenlos und naiv" zugesehen, wie in der Bombardier-Chefetage klammheimlich die Weichen zum Nachteil Ammendorfs gestellt worden seien. Kritiker meinen, dass sich die Kanadier letztlich gegen Ammendorf und für Hennigsdorf entschieden hätten, weil sich Brandenburgs Landesregierung "einfach cleverer" gezeigt habe. Das Stolpe-Kabinett - so die Vermutungen - soll sich den Fortbestand seines Waggonbau-Standortes durch eine Fördermittelzusage in Höhe von 90 Millionen Mark für den Bau eines Test-Ringes für Schienenfahrzeuge "erkauft" haben.

Die Regierung in Magdeburg geriet noch zusätzlich in Erklärungsnot, als der Konzern just an dem Tage, an dem seine Schließungspläne gewahr wurden, einen 90-Millionen-Mark-Auftrag der Stadt Halle über den Bau von 30 Straßenbahnen vermeldete. Für Waggonbau-Schlosser Roland Zober "unfassbar", dass diese Trams - vom Land Sachsen-Anhalt mit Millionen gefördert - nun bei Bombardier in Bautzen gebaut werden sollen. "Okay, Straßenbahnen sind nicht unser Ding", räumt der Arbeiter fair ein. "Aber man hätte doch vertraglich festzurren müssen, dass wir als Ausgleich dafür Waggons bauen, die in den Bautzener Auftragsbüchern stehen", erregt sich Zober über "das Unvermögen der Landesregierung". Höppner versucht nun, unter dem Druck der Öffentlichkeit zu retten, was zu retten ist. So erreichte er wenigstens, das eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Vertretern des Konzerns, des Landes und der Gewerkschaft, die Angelegenheit noch einmal prüfen soll. Ob sich die Kanadier aber umstimmen lassen, erscheint fraglich.

Als Zeichen des Widerstandes lassen die Waggonbauer derzeit an einer Straßenkreuzung in Halle Tag und Nacht ein Mahnfeuer lodern. Streik, Betriebsbesetzung, Sperrung des Schkeuditzer Autobahnkreuzes oder spektakuläre Aktionen in Berlin - die Skala der Möglichkeiten, "bundesweit auf unseren Kampf hinzuweisen", sei groß, will sich Betriebsratschef Reiner Knothe noch nicht auf das weitere Vorgehen festlegen. "Wir lassen uns von den Bossen nicht ausrangieren wie einen verrosteten Waggon", spricht Schlosser Peter Weickardt aus, was viele seiner Kollegen empfinden. Die Hoffung, das wird in diesen Tagen in Halle deutlich, stirbt zuletzt.

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