Nach dem Ersten Weltkrieg fällt das Habsburgerreich auseinander. Für den bisherigen Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn beginnt eine Zeit der Umbrüche. Ungarn löst sich von der K-u.-k.-Monarchie. Im November 1918 wird im Anschluss an die „Asternrevolution“ die demokratische Republik Ungarn ausgerufen, die gerade das sozialistische Milieu enttäuschte – und ihm schließlich Zulauf bescherte –, da die massiven sozialen Missstände nicht bekämpft wurden. Orientiert an der bolschewistischen Russischen Revolution wird Ungarn vom 21. März bis 1. August 1919 unter der Führung des Bolschewisten Béla Kun für 133 Tage eine Räterepublik. Zum Thema gibt es bisher wenig deutschsprachige Literatur. Der vorliege
egende autobiografische Bericht eines Zeitgenossen füllt damit eine Lücke.In der ungarischen Räterepublik wurde der Kunst und Kultur ein großer Stellenwert beigemessen. In diesem Kontext nimmt der in Deutschland wenig bekannte Lajos Kassák (1887 – 1967) eine wichtige Rolle ein. Bereits 1915 gründete Kassák mit dem Schriftsteller und Kunstkritiker Emil Szittya eine revolutionäre Zeitung. A Tett (Die Tat) ist anarchistisch-avantgardistisch und wird 1916 nach 17 Ausgaben verboten, da das nach dem Vorbild von Franz Pfemferts Die Aktion herausgegebene Blatt im Ersten Weltkrieg auch Beiträge „feindlicher“, ausländischer Künstler*innen publizierte. Programmatisch warb Kassák, dessen tiefe Abscheu jedem Nationalismus, Rassismus und Militarismus galt, für die Befreiung der Literatur von „Ismen“. Noch 1916 gründete Kassák ein neues, nun politisch weniger konfrontatives Zeitungsprojekt, die bis 1925 erscheinende avantgardistische Zeitschrift MA (Heute).Bereits früh schrieb Kassák eine umfassende, mehrbändige Autobiografie. Erstmals erscheint nun der achte Band von Kassáks Erinnerungen, der die ungarische Räterepublik umfasst, in deutscher Sprache. Kassák, der sich politisch links verortete, gibt eine sehr kritische Beschreibung dieser kurzen Periode der ungarischen Geschichte. Er war dabei zugleich teilnehmender Beobachter und aktiver Mitgestalter der Ereignisse. Entsprechend eindringlich, intensiv und unmittelbar sind seine Erinnerungen.Als Kulturkampf inszeniertKassák schreibt von kurzfristigen Überlegungen, seine MA aufzugeben zugunsten eines direkteren Engagements für die Revolution, die er als „ernsthafte Aufgabe“ betrachtet, die ihn aber gleichwohl nicht mit Begeisterung erfüllt. Kassák war alles andere als ein kommunistischer Parteisoldat: „Mich bindet keine Parteidisziplin, sondern die Moral der Bewegung.“ Die Verwirklichung umfassender Gerechtigkeit war ihm ein Anliegen, dem er seine von Beginn an bestehende Skepsis gegenüber einer proletarischen Diktatur unterordnet. So ist ihm die Versorgung der Bevölkerung mit menschenwürdigem Wohnraum ein Anliegen. Anschaulich gibt er als Zeitzeuge die Debatten in Beratungen, Versammlungen und persönlichen Gesprächen wieder, die endlosen Tagungen der Räte, die langatmigen Diskussionen.Mit wachem, stets kritischem Blick lässt Kassák die Aufmärsche am 1. Mai, vorbei an der Büste von Lenin, lebendig werden, berichtet von den Veränderungen im Kulturbetrieb, vom Theater in der Revolution, von „verkrüppelten Soldaten und als verkrüppelten Soldaten getarnten Gegenrevolutionären“, von den Intellektuellen „im bodenlosen Sumpf der Besessenheit“. Offen schildert Kassák das tiefe, unlösbare Zerwürfnis mit orthodoxen Kommunisten wie dem Regisseur und Dichter Béla Balázs und dem Literaturkritiker und Philosophen Georg Lukács.Ernüchtert muss Kassák feststellen, dass sich viele Menschen aus ihrem Hamsterrad nicht befreien lassen wollen, den Neuerungen ängstlich bis ablehnend gegenüberstehen. Er verteidigt den Sozialismus gegen verbreitete Befürchtungen: „Die Sozialisten wollen nicht, dass alle arm werden, dass alle Kanäle reinigen sollen, sondern das genaue Gegenteil. Wir sind bereits so weit kulturell gebildet, haben die technischen Fähigkeiten, dass sich der Mensch von dem Joch der schweren Arbeit befreien kann, dem Fluch der kapitalistischen Einrichtungen des 19. Jahrhunderts.“ Und doch ist da immer wieder der nagende Zweifel: „Ist es unvernünftig, dass ich als Sozialist den Auswirkungen der Revolution unzufrieden gegenüberstehe?“ Sozialist und Künstler, das ist für Kassák weniger Resultat einer bewussten, freien Entscheidung, sondern „schicksalhafte Lebensform“.Kassák wird früh aufgefordert, sich in den Dienst der Bildungskommission der Räterepublik zu stellen, er wird bedrängt, seine MA zur offiziellen Literaturzeitung der Republik umzugestalten und Propaganda für die „Sache“ zu betreiben. Es wird immer schwieriger, sich der „Schleimer und Schönredner“ zu erwehren. Zwiespältig beobachtet Kassák, wie die Revolution durchaus Errungenschaften mit sich bringt, die aber sogleich wieder von opportunistischen Kräften bedroht werden. Da Kassák sich weigert, die MA auf Parteilinie zu bringen, wird die Zeitschrift kurzerhand verboten, weshalb er schließlich das Land verlässt und sein Magazin von Wien aus herausgibt.Da Kassák frühzeitig ins Exil geht, fehlen Betrachtungen etwa zu Miklós Horthy, dem zutiefst antisemitischen Verteidigungsminister der konservativen Gegenregierung und späteren Verbündeten Hitlers. Horthy leitete 1919 den schließlich erfolgreichen Kampf gegen die Räteregierung, womit eine umfassende Phase des weißen Terrors gegen Sozialist*innen, Kommunist*innen und Jüd*innen begann. Ungarns Ministerpräsident Orbán bezieht sich heute mit seinem autoritären Regime, dessen Agieren er nicht zuletzt als Kulturkampf inszeniert, immer wieder positiv auf Horthy.Gegenwärtig sind in Ungarn unter Viktor Orbán nicht nur die Pressefreiheit und die Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt – Forschungen zu Genderthemen etwa wurden für unerwünscht erklärt –, bedroht ist ebenso die Autonomie der Kunst. Gegen ein Gesetz, das die Theater und andere Kultureinrichtungen stärker kontrolliert, wurde 2019 eine Online-Petition von Menschen aus dem Kultursektor initiiert. „Die Regierung ist dabei, das Kulturleben in unserem Land systematisch zu zerstören“, heißt es darin. Im selben Jahr jährte sich die ungarische Räterepublik zum 100. Mal. Das Ereignis blieb in Ungarn ungefeiert. Das ist wenig erstaunlich. Von der einstigen Hochachtung für Kunst und Kultur ist, jenseits von deren nationalistischer Vereinnahmung, nichts geblieben.Placeholder infobox-1
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