Kunst ist keine Pufferzone

G 8 Gipfel Inszenierung auf beiden Seiten des Zauns: Die Mächtigen klappern mit dem Silberbesteck, die Kritkier suchen neue Wege des Protests

Am 1. Mai 2001 fand in Milano die erste Mayday-Parade statt. 500 Aktivistinnen erprobten am Nachmittag dieses 1. Mai die neue Demonstrations-, Aktions- und Organisationsform der Parade und kleinerer performativer Interventionen in ihrer Umgebung. Sie zogen damit Fluchtlinien von der Top-Down-Mobilisierung zu einem Prozess der Selbstorganisierung der Prekären, von der Hierarchie der Rednerbühnen zur temporären Transformation der Stadt in eine Bühne der vielen, vom Paradigma der Aufteilung des Raums zum Paradigma der Verteilung im Raum. Nicht zufällig war die Idee einer Parade der Prekären in Norditalien entstanden, wo Phänomene der Zeitarbeit, der extremen Flexibilisierung und der Immaterialisierung der Produktion in den letzten zwei Jahrzehnten stärker und früher aufgetaucht sind als in anderen europäischen Kontexten und dementsprechend auch in die diesbezüglichen theoretischen Überlegungen einfließen konnten.

Die 2001 bereits formulierten Motive der heutigen Euromayday-Bewegung bestanden in einer dreifachen Verschiebung: einer Verschiebung der traditionellen inhaltlichen Fixierung des 1. Mai auf das trostlose Paar Arbeit-Arbeitslosigkeit hin zur Thematisierung der Prekarisierung von Arbeit und Leben, einer Verschiebung der starren und spektakulären Hierarchie der 1.-Mai-Aufmärsche zu neuen, nicht-repräsentsorientierten Aktionsformen und schließlich einer Verschiebung vom beschränkten nationalen Rahmen zu einer transnationalen Bewegung, die damit vor allem auch Aspekte der Migration aufnahm. Als Anstoß für eine erste Manifestation der sich in den kommenden Jahren permanent verbreiternden Bewegung war die kleine Parade in Milano ein großer Erfolg.

2001 gab es allerdings noch ein weiteres, eher taktisches Motiv für die Erfindung des Mayday. Die Mayday-Parade war auch angekündigt als Plattform für die Mobilisierung und Vorbereitung der Proteste gegen den damals bevorstehenden G 8-Gipfel in Genua. Dieser kulminierte bekannter Weise in der Abriegelung der halben Stadt als einer "roten Zone" und in der brutalen polizeilichen Verfolgung der Hunderttausenden von Protestierenden. Der Tod von Carlo Giuliani, die vielen Verletzten und die gerichtliche Verfolgung von Aktivistinnen, die fast sechs Jahre danach teilweise noch immer nicht abgeschlossen ist, waren die extremen Effekte dieses mehrfach bruchartigen Ereignisses. Für die G 8 bedeuteten die Ereignisse von Göteborg und Genua 2001, dass sie sich nach der Niederlage in Seattle auch noch aus den großen Städten zurückziehen mussten, auf winzige Inseln, ins schottische Heideland und nun also an die deutsche Ostseeküste. Zugleich war die quasi-militärische Eskalation von 2001 auch ein massiver Schock gerade für jene Teile der globalisierungskritischen Bewegung, die sich am weitesten von den Organisierungs- und Aktionsformen der traditionellen Linken abgesetzt hatten. Während die gängige Interpretation 9/11 als den alles verändernden Einschnitt im Jahr 2001 nahe legt, war es für diese neue Linke zwischen Pink-Silver und Indymedia schon die Repression am Beginn dieses Sommers, die eine Krise der politischen Aktionsformen auslöste. Die Spirale immer repressiverer Szenarien, die sich aus dem Zusammenwirken der Brutalität der Polizeiapparate und der Spektakel-Produktion der Medienmaschinen ergaben, die Verschärfung der Kontrollregimes und das Ausufern der Polizeilogik im lokalen wie im globalen Maßstab machten ein weitgehendes Umdenken notwendig. Die Bewegung der Bewegungen verlagerte sich einerseits von der massenhaften Empörung stärker auf die mikropolitischen Komponenten des Widerstands und der konstituierenden Macht, also das Experimentieren an alternativen Formen der Organisierung im kleinen Rahmen. Andererseits transformierte sich das massenhafte Element in den noch größeren, aber weniger konfrontativen Anti-Kriegsdemonstrationen und in der Bewegung der Sozialforen. Damit fanden die transnationalen Aspekte ihre Fortsetzung und Ausweitung, zugleich kehrten aber die konventionelle Aufteilung von Raum und Sozialität und die alten Formate von Kundgebung und Demonstration wieder.

Neben und jenseits der Wirkmächtigkeit dieser großen Formate entwickelte sich der Mayday langsam zum Euromayday und breitete sich ab 2004 als Bewegung gegen die Prekarisierung über weite Teile Europas aus, mit der Tendenz und dem Anliegen, über Europa hinaus zu gehen und zu einem Mondo-Mayday zu werden. Der 1. Mai 2007 brachte eine weitere Ausdehnung der Paraden. In mehr als zwanzig Städten in Europa fanden Euromayday-Paraden statt, unter anderem in Hamburg, Wien und Berlin. Und wie am Beginn der Mayday-Bewegung in Italien wurde in verschiedenen Aufrufen des Euromayday zu den Protesten gegen die G 8 in und um Heiligendamm mobilisiert.

Handelt es sich hier um eine Wiederkehr des gleichen Ablaufs: erfolgreiche Mayday-Parade, Desaster am G 8-(Gegen-)Gipfel? Nein, der Vergleich hinkt: Der "Zyklus", der sich in den neunziger Jahren nicht zuletzt aus außereuropäischen Kämpfen wie den zapatistischen Aufständen im mexikanischen Regenwaldgebiet von Chiapas und ihrem poetisch-politischen Protagonisten Subcomandante Marcos speiste, in Seattle dann Ende 1999 sicht- und greifbar wurde und mit Prag 2000 endgültig auf den europäischen Kontinent schwappte, kam aus heutiger Sicht in Genua zu seinem Ende. Sechs Jahre später könnte es hingegen um eine neue Formierung gehen. Dann müsste aber aus den alten Problemen von Genua gelernt werden. Das zentrale unter ihnen: Die Fixierung auf Zäune, Mauern, rote Zonen oder Grenzen anderer Art entspricht letztlich einer Unterwerfung unter die Raumpolitik der Staatsapparate. Stillschweigend wird damit der Raum als gekerbt, als aufgeteilt vorausgesetzt, in Form der rigiden Segmentierung in verschiedene Zonen mit verschiedenen Schwellen des Zugangs. Jede Re-Aktion auf eine solche Segmentierung, Rasterung und Kerbung des Raums schließt sich im selben Paradigma der Aufteilung des Raums ein. Und das betrifft nicht nur den realen Raum um das G 8-Treffen, den Zaun, die extreme Ordnung des Territoriums um Heiligendamm. Es betrifft auch und vor allem den Raum der Medien und den sozialen Raum.

Über die Intervention von Staatsanwälten und Mainstream-Medien wird auch in den letzten Wochen wieder jene Sortierung in konstruktive Kritik und gewalttätige Randale aufgerufen, in "Dialogbereite" und "Gewaltbereite", die dann so verheerend zurückwirkt in den sozialen Raum der Bewegung. Die Aufteilung von Raum und Sozialität ereignet sich damit nicht mehr nur im Rahmen der staatlichen Ordnung und der massenmedialen Zuschreibungen, sie reproduziert sich in den Auseinandersetzungen über die inneren Widersprüche oder in der disziplinären Aufteilung von Funktionen innerhalb der Bewegung.

Als groteske Übertreibung dieser Aufteilung des Raums in rigide geschiedene gesellschaftliche Sektoren und Disziplinen muten in diesem Zusammenhang die Überlegungen über die Funktion von Kunst als Gegenüber von Politik oder sozialer Bewegung an. Die Idee, einen "Kulturteil" zum "politischen" hinzuzufügen, geht aus einem Ansatz hervor, der beides, Kunst und Politik, als reine Repräsentation missversteht und damit auch einen Mechanismus der gegenseitigen Abgrenzung und Denunziation anspringen lässt. Schon die "Kulturprogramme" der Sozialforen sind ein dementsprechendes Missverständnis, exemplarischer noch Adrienne Goehlers Projekt Art Goes Heiligendamm (siehe Freitag 14/2007), in dem Kunst als eine vermittelnde und deeskalierende Pufferzone instrumentalisiert werden soll.

Wo aber aktuelle Kunstproduktion sich mit dem Politischen überlappt, arbeitet sie genau im Gegenteil daran mit, jene Zonen des Konflikts herzustellen, in denen es gerade nicht zu einer Aufteilung des Raums des Protests in Eskalateure und Vermittlerinnen, Chaoten und Vernünftige, in bunt und schwarz oder in Kultur und Politik kommt. Wenigstens vorübergehend sollen hier Kerbungen, Rasterungen, rigide Aufteilungen unterwandert werden, ohne dass damit gleich die Spezifität verschiedener Praxen des Protests verloren ginge. Innerhalb eines solchen transversalen Stroms, der die Räume von Politik und Kunst gleichermaßen durchquert, gibt es auch genügend Platz für künstlerische Kritik, die nicht aus der Position eines konstruierten gesellschaftlichen Außen spricht. Eine künstlerische Kritik, die nicht das Politische durch "Vermittlung und Deeskalation" aus der Welt schaffen will, sondern verschiedene spezifische Kompetenzen innerhalb von sozialen Bewegungen und mikropolitischen Aktionen bündelt.

Wo Kunst nun nicht Repräsentation, sondern Repräsentationskritik einschließt, geht es zunächst um ein Sicht- und Sagbarwerden von kritischen Positionen: hier vor allem jener Positionen, die die G 8 und ihre Politik kritisieren, und zwar mit sehr unterschiedlichen Mitteln. Im Projekt Holy damn it. 50.000 Plakate gegen G 8 gebrauchen Künstlerinnen im Vorfeld von Heiligendamm ihre spezifische Kompetenz etwa in einem alten Genre, nämlich dem der Plakatkunst. Holy damn it ist eine Plakatserie, für die zehn Künstlerinnen und Künstlerkollektive aus vier Kontinenten jeweils ein Plakat gestaltet haben. Von der klassischen Gegeninformation bis zur postkolonialen Kritik an den G 8, von der Aufforderung zur internationalen Organisierung bis zur Werbung für Blockaden reichen die Sujets dieser Plakate. Wenn sie in diesen Wochen in unzähligen Kunsträumen zwischen Bukarest und Bern, Karlsruhe und Zagreb ausgestellt und mit diskursiven Veranstaltungen in Zusammenhang gebracht werden, entspricht das einem weiteren Bereich, wo sich das Politische und die Kunst überlappen: Kunstinstitutionen, die ihre Räume öffnen und damit im kulturellen Feld temporäre Gegenöffentlichkeiten herstellen. Und schließlich kommt es über dieses Schaffen von kleinen Gegenöffentlichkeiten hinaus in den aktivistischen Kunst- und Medienszenen in den letzten Jahren immer häufiger zu noch intensiveren Momenten der Transversalität, der ununterscheidbaren Überlappung von politischen und ästhetischen Strategien. Gerade in den geplanten massenhaften Blockaden um Heiligendamm werden in dieser neuen Tradition performative Praxen zur Anwendung gelangen, die auch hier die dualen Logiken der Trennung, der Zäune, der gekerbten Räume durchkreuzen und sich im Raum verteilen: etwa in den Interventionen der Superhelden vom Hamburger Euromayday oder der interplanetarischen Clowns Army, deren Kohorten schon angekündigt haben, "für Sicherheit sorgen zu wollen".

Gerald Raunig ist Philosoph, arbeitet am European Institute for Progressive Cultural Policies (http://eipcp.net/) und publiziert in den Nachbarschaftszonen von poststrukturalistischer Philosophie und politischer Ästhetik. Zuletzt erschien von ihm 2005 Kunst und Revolution. Künstlerischer Aktivismus im langen 20. Jahrhunderts, gemeinsam mit Ulf Wuggenig gab er in diesem Jahr Kritik der Kreativität heraus (beide bei Turia+Kant, Wien).


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