Ein friedlicher Jahreswechsel und dies, obwohl es der eines Jahrhunderts, ja, der eines Jahrtausends war - das darf nicht wahr sein! Eine Katastrophe! Was ist passiert? Nichts ist passiert. Der Weltuntergang blieb aus. Wir sind mit einem Vakuum konfrontiert, ringen nach Luft! Gott sei Dank, machen die Medien Dampf: Orkane, Ölteppiche, Flugzeugentführung, Karambolagen, Terrorismus und Attentate werden am Anfang des neuen Jahres zu einer "Zuchtrute der Pest" gebündelt, mit der uns weiterhin eine zukunftsträchtige "Lehrzeit" eingebläut wird. Ihre Striemen sind geschichtliche Spuren der Angst. Zwar sauste diese Zuchtrute am Ende des alten Jahres nicht als Volltreffer nieder, aber warte nur ein Weilchen, dann wird unser christliches Anrecht auf eine anständige Apokalypse erfüllt!
Denn der Computer-GAU, der vor allem zu wünschen übrig ließ, steht noch aus. Er wird jetzt für den Februar 2000 versprochen, falls es März wird, auch nicht schlimm. Hauptsache das Unglück, das sich, heimtückisch, nicht an die Daten des Weltuntergangs hält, damit es uns rücklings überfallen kann, bleibt als Bedrohung im Spiel, die desto umfassender ist, je weniger sie zu fassen ist: "Die Angst wandert weiter", so die Schlagzeile am ersten Werktag dieses Jahres, der dadurch nicht zum Jüngsten Tag wird. Doch die wieder ferne Offenbarung eines größtmöglichen Unfalls sei jedoch noch immer nah, stehe ins Haus, Gott sei gelobt, wo dieser, so Gelobte, seinen Platz längst mit dem Computer vertauscht hat. Dessen "black box" ist ein Hausaltar, der die tägliche Angst in die Knie zwingt.
Ja, er hatte Angst, sagt ein Interviewter in der Deutschen Bank, aber er habe auch gewusst, dass diese Bank selbst ein Interesse am Schutz vor Bedrohung hat.Vielen Dank! Damit ist die Botschaft der Offenbarung Johannes' zusammengefasst. Klar, Gott, nicht der Computer ist ihr vorausgesetzt, denn sie ist in der Spätantike, der Zeit des frühen Christentums, verfasst. Jene Botschaft aber ist dieselbe, die da lautet, Gott, von dem die Bedrohung ausgeht, verspricht auch den Schutz vor ihr. Welche Instanz immer diese Botschaft vertritt, sie ist eine Instanz der Gewalt nach dem Motto, dass nur die "Pest" vor der "Pest" schützt. "Doch was hat das mit dem Computer zu tun ", könnte der Interviewte noch gesagt haben, "infrage stand zwar, ob Flugzeuge vom Himmel fallen, Züge entgleisen, Atommeiler durchgehen, aber worin soll der Zusammenhang zwischen Computer, Pest und Gewalt bestehen? War es nicht der Computer, der Schutz vor dieser Bedrohung versprach, was er auch hielt?"
Pause. Vielleicht wäre die Meldung zu hören gewesen, dass in Tschetschenien eine Vakuumbombe niederging. Vielleicht hätte auch jemand aus der Offenbarung Johannes' vorgelesen: von den Sieben Engeln, die keine Computer-, doch Gottes-Experten sind. Sie gießen sieben Plagen aus sieben Schalen aus, in deren "black box", gemäß der Spätantike, die Büchse der Pandora, gemäß dem frühen Christentum, die Fotze der "Hure Babylon" zu erkennen ist. Aus beidem stürzen mit der Erbsünde Eva identische Übel hervor, woraus resultiert, dass die "Pest" in Engelshand weiblich ist. Das volle "Gefäß" Frau, ihr Geschlecht, das gebiert, ist der Tod. Vor ihm schützt nur das leere "Gefäß" Frau: Maria, die der Schlange Eva das Haupt zertritt. Die Heilige ist die Zuchtrute für die Zuchtlosigkeit der Hure, da jene durch das "Wort" empfängt, diese nicht. Aber auch das "Wort" ist an den Körper gebunden, so dass die Heilige von der Hure nicht zu trennen ist. Darum gilt bis in die Moderne, Weibliches ist die Pest. Punkt.
Wie dieses Weibliche als bedrohliche Zuchtlosigkeit, oder schützende Zuchtrute, eingesetzt wird, das entscheiden die Gottes-Experten, deren erste Schale "eine böse und arge Drüse an den Menschen" auslöst, die zweite verkehrt das Meer in das "Blut als eines Toten", die dritte vergiftet die "Wasserbrunnen", die vierte erhitzt die Sonne, die fünfte verfinstert das Reich des "Tiers", der von der Hure gerittenen, politischen Macht, die sechste produziert eine Dürre, die siebte erstickende Luft. Obwohl diese, aus der "Drüse" der weiblichen Pest ausfließenden Plagen auf das Kippen der Meere, die Verschmutzung des Trinkwassers, das sich erweiternde Ozonloch, die Korruption der Politik, die grassierende Versteppung und auf die steigende Luftverunreinigung bezogen werden könnten, während jene "Drüse" der Pest als AIDS wiederzukehren scheint: obwohl dem so ist, darf nicht vergessen werden, dass diese Plagen göttlich verhängte sind! Warum? Weil das christliche Gute durch das Böse gerechtfertigt wird.
Anders gesagt, das Böse dient dem Guten in dem Maß, wie dieses ihm vorausgesetzt ist. Das Böse ist nur der Mangel des Guten, es kann sich also in seiner Fülle ausbreiten, ohne dass das Gute geschmälert wird. Im Gegenteil, es wird durch das Böse entlastet, während dieses sich mit Schuld überhäuft, die keine andere ist, als die der physischen und moralischen Pest. Sie verseucht jeden, den das weibliche Geschlecht gebiert: welche Plagen die Gottes-Experten des Guten auch schicken, sie fallen in dieser Dialektik stets auf das Böse zurück. Denn das Gute hat mit ihm nichts zu tun, obwohl es permanent mit dem Bösen dealt. Darum wird das Böse im apokalyptichen Endkampf nie getötet, in dem die "Pest" gegen die "Pest" eingesetzt wird. Es wird nur gefesselt, um aufs neue für die, aus der alten Zeit hervorgehende neue Zeit, entfesselt, zur Verfügung zu stehen.
Dass diese Dialektik desto besser funktioniert, je mehr sie sich säkularisiert, leuchtet ein, da ein kirchlicher Gott, der vom Katastrophischen nicht mehr zu unterscheiden ist, Zweifel ob seines Schutzes für die von ihm Bedrohten auslöst, ein weltlicher Staat, der dieselbe Politik der Angst betreibt, nicht. Hobbes zieht daraus die Konsequenz, dass er diesem Staat mit Anbruch der Moderne den Namen des von der Hure gerittenen "Tiers" verpasst. Er nennt ihn Leviathan, aber unter der Bedingung, dass dieser nicht mehr der Widersacher und Helfershelfer Gottes ist, sondern der Verursacher seiner eigenen Macht. Die "Zuchtrute der Pest" wird auch von ihm geschwungen, doch wenn es vom Gott der Kirche in ihrem Endkampf heißt, "er bindet sie, weichet sie ein, weiset sie uns, und steupet endlich, das uns wehe tut. Wer aber auch unter der Ruten halsstarrig ist, der muß dem Fewer unterworfen sein und bleiben", dann tritt der weltliche Staat seinen Anfangskampf für eine moderne Zukunftsproduktion mit einer anderen Einsicht an.
Mit dieser anderen Einsicht - der Einsicht Camus', dass ein ins Feuer geworfener "Toter zwar etwas Erfrischendes hat, aber er bringt nichts ein. Alles in allem ist er nicht so viel wert, wie ein Sklave", dessen Unwert in einen Wert für den Leviathan umzumünzen ist: mit dieser anderen Einsicht beginnt die "Lehrzeit", die uns durch eine moderne Verwaltung und Bewirtschaftung des Lebens eingebläut ist. Der Tod wird in das Leben, die Seuche wird in die Hygiene, das Böse wird in das Gute integriert. Die "Zuchtrute der Pest" saust nicht mehr zwecks Verdammung, sie saust zwecks Verwertung der Körper nieder. Die Striemen ihrer Spuren der Angst führen geschichtlich zu "Haufen von herumliegenden Toten" zurück, die, erfaßt von einem "Gerät", auf "Karren" geworfen und in Massengräber "heruntergekippt" werden, wie Defoe in seinem Pestjournal notiert. Denn vor der Pest, die nicht mehr Sünde, sondern Krankheit ist, sind alle gleich: Kadaver, sonst nichts.
Das Leben wird auf das Organische einer Biologie reduziert, in der die transzendente Dialektik von Gut und Böse wiederkehrt, aber auf den immanenten Mechanismus von gesunder Natur und kranker Widernatur verkürzt. Dennoch schließt dieser Mechanismus, nach Foucault, einen zweifachen "politischen Traum" der Moderne ein. Dort ist er auf die Ordnung, hier ist er auf die Anarchie, dort ist er auf die Organisation, hier ist er auf die Orgie gerichtet, auf ihre Berührungen bis hin zum Aufrührerischen. Doch ihrer "Infektion" tritt die Desinfektion mit dem Traum-Ziel einer endgültigen Säuberung entgegen: "Gegen die Pest, so Foucault, die Vermischung ist, bringt die Disziplin ihre Macht, die Analyse ist, zur Geltung, das Eindringen des Reglements bis in die feinsten Details der Existenz vermittels einer perfekten Hierarchie, welche das Funktionieren der Macht bis in ihre letzten Verzweigungen sicherstellt". Dabei verspricht sie in dem Maß Schutz vor der Pest, wie sie die Bedrohung durch diese postuliert, weil jene Macht auf den Ausnahmezustand im Normalzustand angewiesen ist.
Wo immer die "Pest" der Vergesellschaftung zwischen dem sechzehnten und achtzehnten Jahrhundert auftritt, wird per Dekret eine arbeitsteilige Überwachungs-Hierarchie etabliert, die noch im Souverän des absolutistischen Staats kulminiert. Er übernimmt gegen ihre "feindliche Invasion" die militärische Sicherung der Landes-, Stadt-, Haus- und Körpergrenzen, indem er mit einer "zulänglichen Garnison" einmarschiert, um den Angriff der Pest von außen durch eine innere Verteidigung abzuwehren, die über den entsprechenden Ort den Belagerungszustand und das Kriegsrecht verhängt. Wer sich ihm nicht unterwirft, wird erschossen, damit "die Seuche nicht durch Transpotir- und Ausbreitung des Giffts vergrößert werde". Gleichzeitig beschließt der örtliche Magistrat in Kooperation mit einem überregionalen Ärzte-Konzil eine Pest-Instruktion. In dieser Kooperation ist der inzwischen weltweite, juridisch-medizinische Komplex angelegt, durch dessen Macht-Wissens-Produktion der "Körper des Königs" sich schließlich zum modernen "Volkskörper" umstrukturiert.
Seine Gesundheit wird über Krankheit, seine natürliche Zucht wird über widernatürliche Unzucht, seine Erhaltung der Art wird über Entartung vorangetrieben. 1933 bringt Artaud die Pest auf die Bühne, um das "Hervorbrechen einer latenten Tiefenschicht der Grausamkeit" zu zeigen, die alle "perversen Möglicheiten des Geistes", seien es die eines ganzen Volkes, oder die eines Einzelnen, offenbart: rote Flecken überziehen den Kranken, sie schlagen ins Schwarze um, sein Kopf brodelt, wächst ins Riesenhafte. Diese "rieselnde Verwirrung" seines Geistes, dieses entzündete Auge, diese rissige Zunge - alles kündet ein "organisches Gewitter" ohnegleichen. Inmitten der Flecken bilden sich glühende Punkte, rings um sie schwillt die Haut "wie Luftblasen unter einer Lavaoberfläche". Für Artaud ist die Pest Anarchie, die gegen jeden politischen Ordnungs-Traum der Säuberung rast.
1948, im Todesjahr Artauds, bringt auch Camus die Pest auf die Bühne. In seinem Stück Belagerungszustand tritt sie als totalitäre Disziplin auf, verkörpert in einem Unteroffizier, der sich als Rädchen einer Maschine begreift, die nicht er selbst antreibt. "Ich herrsche auf meine Art, und es wäre richtiger, zu sagen, daß ich meines Amtes walte", so dieser Unteroffizier. Er ist es, der das auf seine Biologie reduzierte Leben, das bei Artaud organisch deliriert, auf der Ebene einer Politik verwaltet und bewirtschaftet, die eine nie zu beendende "Lehrzeit" der zu verwertenden Körper perspektiviert. Deshalb prognostiziert er, der Höß, dem Kommandanten von Auschwitz gleicht, obwohl dieser Unteroffizier eine Figur des siebzehnten Jahrhunderts ist: "Eure Lehrzeit steht euch erst bevor, aber ihr werdet schließlich merken, daß gute Organisation mehr wert ist als schlechtes Pathos".
Gute Organisation schützt sich selbst, indem sie das von ihr Bedrohte wegrationalisiert. Auch Höß lässt das Insektenvernichtungsmittel Zyklon B in Wagen des Roten Kreuzes nach Auschwitz bringen. Wir aber werden schließlich bemerken, dass wir nichts mehr merken, je mehr schlechtes Pathos die Medien produzieren. Schon Artaud pointiert, dass der "geöffnete Leichnam" des Pestkranken "keine stoffliche Einbuße" aufweist. Er verhält sich, als ob es um ein "abstraktes Leiden an sich" geht, von dem nur gesagt werden kann: "der Körper ist steinhart". Als Effekt dessen, dass die Moderne den Körper als Leichnam und Ding konstruiert, das von dem Cartesischen "Ich denke" seines perversen Geistes in Schach gehalten wird, bemerkt er gar nichts mehr.
Er ist gegen jede Seuche immun und also mit dieser identisch, so der Spiegel, der in seiner Nummer zum Jahresende, unter dem Titel "Gerangel im Schattenreich", das unsere hoffnungslose Vernichtung durch Mikroben ankündigt, folgenden Vergleich unter der Prämisse aufstellt, dass "kein einziger Mensch bisher einen lebenden Aidserreger zu Gesicht bekommen hat. Denn das HI-Virus ist so klein, dass, wäre es groß wie ein Mensch, der Mensch das Volumen der ganzen Erdkugel hätte." Es ist also noch Hoffnung auf die Apokalypse, die auf den Super-GAU des Computers nicht zu warten braucht, denn mit dem größtmöglichen Unfall der Vakuumbombe Mensch hat die durch die "Zuchtrute der Pest" produzierte Zukunft einen vorläufigen Höhepunkt erreicht, der nicht durch ihre Explosion, sondern durch weitere Implosion übertrumpft werden wird, wie es der nie zu beendenden "Lehrzeit" der Pest entspricht.
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