Die Geburt der Gegenwart in der Wüste

Realität als Imagination Walter Gronds neuer Roman "Almasy" changiert zwischen Archäologie und Cyberspace

Seit Michael Ondaatjes Buch Der englische Patient und Anthony Minghellas gleich betiteltem Film ist der Name des mit diesem Patienten identifizierten Wüstenforschers Ladislaus Eduard Almásy nicht mehr zu überhören oder zu übersehen, obwohl von ihm fast nichts zu sehen ist. Unkenntlich durch Verbrennungen liegt er, wie eine Mumie bandagiert, vor der ihn pflegenden Hana aus Kanada, die ihrem Vater als Lazarettschwester in den Zweiten Weltkrieg nachzog. Der Geschichte von Liebe und Tod dieses Patienten lauschend, wähnt Hana, sie habe sie selbst an seiner Seite erlebt, während er sein Leben aushaucht. Für Hana war es das Leben eines Heiligen, obwohl sie das Gegenteil erfährt: er war ein NS-Spion. Auch bei Grond, der den Englischen Patienten in seinen Roman integriert, stirbt dieser Patient, doch Almásy war er nicht: der Wüstenforscher und Geheimagent stirbt in einem Salzburger Sanatorium 1951. Ondaatjes historisch basierte Fiktion, für die Grond "große Bewunderung" hat, steht für ihn dennoch infrage, da "er die Welt ... gar entstellt wiederzugeben schien. Sie lässt sich nicht auf eine noch so rührende Liebesgeschichte reduzieren!"

Diese Welt ist die einer "aus den Fugen geratenen" europäischen Aristokratie, die mit Beginn des 20. Jahrhunderts ihr zu Bruch gehendes Jagd- und Herrenmodell, technisch aufgerüstet, in die Wüste projiziert. Almásy, 1895 auf dem bis 1918 ungarischen Schloss Bernstein im Burgenland geboren, treibt die Leidenschaft für Geschwindigkeit dorthin. 1905 fährt er Auto; 1912 hat er den Flugschein; 1918 ist er ein mit Tapferkeitsmedaillen dekorierter Flieger des Ersten Weltkriegs; 1926 geht er als Repräsentant der Steyr-Werke nach Ägypten: hier wird er Entdecker, der, beweisbar, für den NS-Nachrichtendienst in Rommels Afrikakorps, unbeweisbar für die englische, italienische und ägyptische Seite im Zweiten Weltkrieg spioniert und mit allen Seiten Waffenhandel betreibt. Doch Gronds Ziel ist keine Biographie dieses ortlosen Entdeckers, der den Ort der Libyschen Wüste im militärischen und wissenschaftlichen Interesse, selbst aber aufgrund seiner Herrschaftsgier über den leeren Raum kartographiert, aus der bei ihm und allen vor dem Zweiten Weltkrieg schwul verbandelten "Wüstenfanatikern" die Raubgier spricht: ihr Codewort ist "Kambyses".

Kambyses ist der mit seinem Heer im Sand erstickte persische Herrscher, den Herodot als Möchte-Gern-Eroberer des Jupiter-Amon-Orakels bezeugt: heute Siwa. Auf dem Weg dorthin musste, doch wo?, der Schatz verborgen sein, der die paramilitärische Forschergruppe vor und nach dem Krieg auf die transnationalen, autobereiften Beine bringt, während ihre Mitglieder im Krieg, verfeindet, sich als Geheimdienstagenten ausspionieren. Es könnte ja sein, dass mitten im Krieg die je andere Seite eine untergegangene Armee gefunden hat! Dieser Wahnsinn ist es, der Grond anstelle einer Biographie interessiert: "all die skurrilen bis phantastischen Charaktere und Ereignisse als Momente der Geburt unserer Gegenwart zu fassen und die Form des Romans daraufhin zu befragen", ist sein Programm. Befragt wird der Roman von Ondaatje, den Grond in ein "intertextuelles Spiel" verwickelt, in das er Briefwechsel und Interviews mit Zeitzeugen als historische Quellen einbezieht, die bei ihm nicht, wie bei Ondaatje, im "Fluss der Fiktion" untergehen. Denn Grond unterbricht diesen "Fluss" permanent, um neue "Momente der Geburt unserer Gegenwart" hervorzutreiben. Sie stützen sein Spiel einerseits kontextuell; andererseits wird es in ein transtextuelles Informationsnetz eincodiert, das die geschlossene Narration Ondaatjes durch eine offene Erzählung ersetzt.

Wie sie zwischen Archäologie und Cyberspace navigiert, dafür das Beispiel der Pyramide, die bei Grond das unübersehbare Symbol der Paar- und Machtstruktur und das übersehene Emblem der US-Dollarnote ist: "Die Spitze der Pyramide schien, vom Sockel abgetrennt, wie ein Raumschiff abzuheben." Nicolas erinnert das ihm Gezeigte, ohne dass er das zwischen Sockel und Spitze leuchtende göttliche Auge dabei vergisst. Sein Auge forscht dem Forscher Almásy nach, da er, wie dieser 1926, einen Autokonzern in Kairo zwecks Produktmanagement des Geländewagens Almásy vertritt. Eine außertourliche Tour mit Rita ist dennoch drin: sie zwängen sich in das Königsgrab der Cheops-Pyramide. Doch kaum am uteralen Ort, fällt Nicolas in Ohnmacht und damit aus, während die Geschichte seines ebenfalls im NS-Nachrichtendienst arbeitenden Vaters zur Sprache kommt. Die Verbindung von Pyramide und Raumschiff, Königsgrab und Uterus, Machtgeheimnis des Vaters und Familiengeschichte, Mythos und Marke Almásy, zeigt sowohl, wie Gronds offene Erzählung Raum und Zeit durchquert, als auch, dass sie nicht nachzuerzählen ist.

Die in Rita sich wiederholende Hana geht jedoch ins Offene "der Geburt unserer Gegenwart". Darum sei nicht verschwiegen, dass sie ihrer Liebe zur Mumie des Englischen Patienten eine Absage erteilt. Für Grond kommt diese Liebe in einer Krankenschwester mit "Vaterkomplex" und "Bombenneurose" auf ihren Nenner, der auch für die den Freudschen "Mann Moses" inkarnierenden Wüstenforscher gilt. Ihre Liebe zum Nichts der Wüste ist von der nekrophilen Liebe zur Mumie des Vaters nur insofern unterschieden, als sie die Mutter meint. Mit ihr, wie immer, telefonierend, scheint es Nicolas, dass Almásy, "von der Stimme seiner Mutter verfolgt", stets weiter in die Wüste floh oder umgekehrt, sie verstieß ihn in die Wüste, weshalb er den Pseudo-Inzest mit einer "männlichen Lesbe" betreibt. Ob der Zusammenhang von Ägyptologie und Neurosenlehre für den Vater und gegen die Mutter oder umgekehrt ausgeht, ein gelber Diwan steht als Original und Imitat für sämtliche Projektionen bereit, da in der Mobilie dieser Couch der Plan für die Mobilmachung mit dem Codewort "Kambyses" vermutet wird.

Der Plan ist ein Flopp und die hermaphroditische Hana geht mit der "männlichen Lesbe" des schwulen Almásy die glücklichste aller Verbindungen ein. Doch diese "queere" Absage an die Paar- und Machtstruktur ist in Gronds Kriegsgeschichte keine Liebesgeschichte, auf die sie zu reduzieren wäre, sondern nur eines der stets neuen "Momente der Geburt unserer Gegenwart", die auf dem "weißen Fleck" der Wüste niederkommt. Er ist Projektionsschirm und black box, kartographiertes Gebiet und Fluchttopos, vermintes Gelände und Unbewusstes, militärischer Stützpunkt und verwehtes Gewirr von Spuren. Ob es bei diesen ›in den Sand geschriebenen‹ Visionen um eine Fiktion als Plan, oder um die Realität als Imagination, oder um die fiktionale Realität des Imaginären geht, das sich mit den Mythen der Geschichtsschreibung auflädt, um die Revolution oder die Diktatur, den Fundamentalismus oder die Restauration gegen das Offene der Moderne zu begründen: bei Grond ist es auf über dreihundert Seiten bestechend präzise, spannend kriminalistisch und passioniert erzählend als Antwort auf die Foucaultsche Frage nachzulesen, aus welchem Schlamm der Schlachten sich en détail die Moderne der Postmoderne unserer Gegenwart gebiert.

Walter Grond: Almasy. Roman. Haymon-Verlag, Insbruck 2002, 317 S., 22 EUR

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