Helmut Kohl hat uns miteinander bekannt gemacht. Wir schreiben das Jahr 1986, die Satirezeitschrift Titanic hatte gerade einen neuen Vermeer vorgestellt. Unverkennbar ein echter Jan Vermeer van Delft. Da stimmte alles, vom Wandschmuck, dem Gebetsgestühl bis zum betörenden Lichteinfall stets von links oben; nur wo vorher die schöne schwangere Briefleserin ihre Betrachter ignorierte, stand nun ein fülliger Briefleser – nicht einfach ein dicker Mann, eher ein mächtiger Herr, in seine Lektüre vertieft. Monat für Monat folgte ein neues Blatt aus der Welt der Kunst, vom Sienneser Meister über Caspar David Friedrich und Spitzweg bis zu Baselitz. Die Meister des Abendlandes versuchten sich ausschließlich am Bilde dieses einen Mannes. Das Umwerfende war: Der Maler dieser meisterlichen Maler war selbst ein Meister. Man kann sagen, Herrndorf betrat als Vollendeter die Bühne der komischen Kunst.
Was er konnte, war einmalig. Hinzu kam die geniale Wahl seines Sujets. Darauf wäre keiner sonst verfallen. Niemand in unseren Kreisen sah diesen Alten gern, aber in den Jahren 1982 bis 1998 war er omnipräsent. Wie also kam ein hypersensibler Artist wie Herrndorf dazu, sich dieses – keineswegs harmlosen, wie sein „Birne“-Image suggerierte – Gevatters Ungeschlacht anzunehmen? Und das mit einer derart liebevollen Sorgfalt, dass es nicht ohne eine enorme Portion Sympathie möglich schien. Ja, war ich denn blind? Genau das war es, Kohl war eben doch einer von uns. Herrndorf lehrte uns sehen: Und wir erkannten das Schöne im Hässlichen. Subversion durch Affirmation. Er widerlegte damit nebenbei auch Robert Gernhardts Theorie, dass künstlerischer Aufwand die komische Wirkung schmälert. Erst das Schlüpfen in die Form- und Stilmaske führte über Bewunderung zur Verblüffung zur neuen Nachdenklichkeit.
In jener Zeit war der Haffmansverlag das Mutterhaus der „Neuen Frankfurter Schule“ (Henscheid et cetera) und Bernd Eilert Chefredakteur der Titanic, und so war die Verbindung bald hergestellt. Es ging dann alles recht rasch und angenehm über die Bühne: Ein Buch ließ sich aus den zwölf Blättern, farbig mussten sie sein, nicht fertigen. Und so erschien im Herbst 1997 der Kunstkalender Wolfgang Herrndorf KLASSIKER KOHL 1998 mit denkwürdigen Folgen, unter denen nicht die geringste war, dass sogar das Kanzleramt 20 Exemplare orderte. Aber man wusste dort wohl nicht so recht, was von der Sache zu halten war, und wollte mehr wissen; und so wurde uns der persönliche Besuch des Kanzlers am Verlagsstand der Frankfurter Buchmesse angekündigt. „Kommen Sie, Herrndorf“, sagte ich zu demselben, wir waren da noch beim förmlichen Sie, „das wird ein großer Spaß, das stehen wir gemeinsam durch.“ – „Nie und nimmer“, gab dieser lachend zurück und schlug sich samt seinem Palästinensertuch in die Büsche. Schon näherte sich die Kavalkade dem Stand: Das dick rosarot bepuderte Antlitz des Kanzlers überragte die seiner Entourage von acht Gorillas um Haupteslänge; ein TV-Kamera- und Tonmann hat sie begleitet. Die Bodyguards hatten eine feste Burg um uns gebaut. Ich bin mit meinem 1,88 Metern nicht gerade ein Winzling, nur neben diesem Koloss, den die Aura der Macht umströmte, fühlte ich mich wie ein Zwergkaninchen. Der Kalender wurde zügig ergriffen, und auf die Frage nach dem Lieblingsbild gab Kohl pro Blattumreißung einen Kurzkommentar: „Spitzweg ... gutt ... nich so gutt ... Lucas Cranach – auch gutt.“ Georg Baselitz wurde umgedreht. „Dann wollemer mal weiter.“ Festzuhalten bleibt: In allen Haushaltungen mit einem Klassiker Kohl-Kalender und nach einjähriger subversiver Machtentfaltung wurde Helmut Kohls Kanzlerschaft bei der Bundestagswahl am 27. September 1998 beendet.
Wolfgang Herrndorf malte für den Haffmans-Verlag noch wunderbare Umschlagbilder zu Werken von Frank Schulz, Ludwig Homann, Gabriel Josipovici, Susanne Fischer und vielen anderen. Besonders anrührend waren seine sieben Bilder zur Allerneuesten klassischen Sau, eine Sammlung der literarischen Hocherotik. Dass einem so begnadeten Maler die Welt der Kunst zu eng geworden war, zeigte seine abrupt anmutende Hinwendung zur Literatur – dass dies gleichzeitig eine Abwendung von der Kunst war, konnte ich gar nicht fassen. Aber auch als Schriftsteller betrat er die Szene, als hätte er nie etwas anderes getan, als Romane zu schreiben. Seine Buddenbrooks heißen In Plüschgewittern und sind 2002 bei Zweitausendeins erschienen. Es folgte eine Einladung zum Ingeborg-Bachmann-Preis-Wettlesen, wo Wolfgang Herrndorf auf Anhieb den Preis des Publikums gewann.
Seine erste Prosaveröffentlichung erschien aber noch vor dem Roman in der Zeitschrift Der Rabe und beginnt so: „Mir ist es peinlich, auf der Straße die Richtung zu wechseln, wenn ich etwas vergessen habe. Ich wechsele vorher mindestens die Straßenseite oder binde mir die Schuhe neu, bevor ich umkehren kann. Schwer zu beschreiben, warum. Es gibt Leute, die kennen das. Und es gibt Leute, die kennen das nicht, und denen kann man das dann auch nicht erklären. Es hat irgendwas mit Scham zu tun.“ Der Rest ist Geschichte.
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