Die Gacaca-Justiz

Volksgerichte Ruandas Versuch, nach dem Genozid mit der "Kultur der Straflosigkeit" zu brechen

Wer heute, zehn Jahre nach dem Völkermord, durch Ruanda fährt, wird an vielen Stellen ein zwei mal drei Meter großes Plakat nicht übersehen. Es zeigt das von Schmerz und Leid gezeichnete Gesicht einer Frau, die den Betrachter forschend anschaut, augenscheinlich eine Überlebende des Völkermords. Rechts von ihr, ein wenig vom Betrachter abgewandt, ist der Oberkörper eines Mannes platziert, der beschämt den gesenkten Kopf auf die Hände stützt, augenscheinlich ein mutmaßlicher Täter - den Hintergrund dieser ruandischen Stillebens bilden liebliche Landschaftsbilder, kontrastiert mit Szenen, die an den Völkermord vor zehn Jahren erinnern: brennende Hütten, fliehende Menschen, Leichen zuhauf. Auf derartigen Bildnissen ist - jeweils in großen Buchstaben und dreizeilig abgestuft - zu lesen: "Gacaca-Gerichte" - "Die Wahrheit heilt" - "Wenn wir sagen, was wir gesehen haben, wenn wir gestehen, was wir getan haben, wird das unsere Wunden schließen."

Der appellativ-beschwörende Ton der Botschaft ist verständlich. Die etwa 800.000 Toten des Völkermords sowie die Zahl der Täter, die vermutlich noch höher liegt, wie auch der Umstand, dass Hutu und Tutsi - ob sie wollen oder nicht - in diesem kleinen, dicht besiedelten Land weiterhin zusammenleben müssen, lassen in der Tat keine Wahl. Wenn ernsthaft mit der "Kultur der Straflosigkeit" gebrochen werden soll, die Ruandas traumatische Geschichte seit der Unabhängigkeit von 1962 geprägt hat, dann müssen die Schuldigen vor Gericht gestellt und bestraft werden.

Fast 1.000 Todesurteile

Gacaca (das "c" in "Gacaca" wird wie das "ch" im englischen "church" ausgesprochen), ein Begriff aus der Landessprache Kinyaruanda, bedeutet Rasen oder Gras. Das weist bereits darauf hin, wo diese Form der traditionellen Justiz in der Regel praktiziert wurde - im Freien, auf dem Dorfplatz, in der Gemeinschaft. Dort kamen Streitparteien und Dorfbewohner zusammen, um unter Leitung eines "weisen Mannes" die Vorwürfe, die sich meist auf Eigentumsdelikte bezogen, zu klären. Es ging nie vorrangig um Bestrafung, sondern den Erhalt des sozialen Friedens.

Nur, lässt sich diese höchst elementare Rechtspflege vor dem Hintergrund eines Völkermords anwenden, wie das die ruandische Regierung stets fordert? Eine Antwort hängt ab von den Alternativen, die sich darüber hinaus anbieten. Da wäre zunächst der Internationale Gerichtshof im tansanischen Arusha, der im November 1994 auf Beschluss des UN-Sicherheitsrats geschaffen wurde. Er soll die hochrangigen Planer und Organisatoren des Völkermords zur Verantwortung ziehen. Trotz eines millionenschweren Budgets und einer erstklassigen Ausstattung hat das Tribunal bis heute lediglich 19 Urteile gefällt, die größtenteils nicht rechtskräftig sind, weil sie Berufungsinstanzen durchlaufen. Entwürdigende Zeugenbefragungen und dubiose, auf eine Leugnung des Völkermords abzielende Verteidigerstrategien tun ein Übriges, um diesem Gericht in Ruanda ein höchst zweifelhaftes Renommee zu verschaffen. In Kigali stößt das Arusha-Tribunal auch deshalb auf Distanz und Skepsis, weil seine Ermittler - zumindest zeitweilig - Verbrechen untersucht hatten, die der Patriotischen Front (FPR) des heutigen Präsidenten Paul Kagame aus der Zeit des Vormarsches von 1994 angelastet werden.

Die zweite juristische Einrichtung, die sich mit der Ahndung des Genozids beschäftigt, wären die Strafgerichte in Ruanda selbst. Sie sind besonders für Mord, Vergewaltigungen, Folter und die Vergehen derer zuständig, die in der Administration des einstigen Regimes, in Armee und Kirche die Massaker unterstützt oder gebilligt haben. Bis heute wurden durch diese Kammern annähernd 10.000 Urteile gefällt, von denen etwa ein Fünftel auf Freispruch lauteten. Fast 1.000 Angeklagte wurden zum Tode verurteilt, doch ist die Vollstreckung seit 1998 ausgesetzt, und vieles spricht dafür, dass die Höchststrafe in nächster Zeit abgeschafft wird.

10.000 Urteile in zehn Jahren - zu wenig, um die Zahl von über 80.000 Häftlingen, die derzeit noch in den Gefängnissen des Landes sitzen und auf ihren Prozess warten, nennenswert zu reduzieren. Und nicht nur das: mit jahrelangem Arrest ohne konkrete Aussicht auf ein Gerichtsverfahren und Haftbedingungen, die als "schwierig" zu bezeichnen ein Euphemismus wäre, werden die Menschenrechte der Gefangenen massiv verletzt, dem inneren Frieden und einer nationalen Versöhnung sind diese Bedingungen eher abträglich.

Täter auf Abruf

Ernsthafte Alternativen zur Gacaca-Justiz existieren folglich nicht. Es bleibt dennoch ein Wagnis, rudimentär ausgebildeten Laienrichtern und - erstmals in der ruandischen Geschichte - Laienrichterinnen eine Urteilskompetenz einzuräumen, die im Falle von Mord bis zur Verhängung einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe reichen kann. Und, obschon es ein Rechtmittelverfahren gibt, ist auch das Fehlen eines rechtskundigen Verteidigers auf Seiten der Beschuldigten kaum ein Indiz, das für "faire" Verfahren bürgt.

Andererseits steht die Gacaca-Justiz für den Versuch einer gemeinsam, von Tätern und Opfern zu leistenden Klärung und rechtlichen Bewertung der Geschehnisse von April bis Juli 1994. In diesem Sinne sieht das Gacaca-Gesetz vor, dass geständige Angeklagte auf erhebliche Strafmilderung rechnen dürfen. Ein zu Reue und Sühne bereiter Mörder - die Zuständigkeit der Gacaca-Gerichte reicht von Gewaltverbrechen bis Sachbeschädigung - kann im günstigsten Fall mit einer Freiheitsstrafe von sieben bis zwölf Jahren davon kommen. Lediglich ein Teil der Strafe muss später abgesessen, der andere kann als gemeinnützige Arbeit verbüßt werden.

Mitte 2002 begannen in ausgewählten Regionen Ruandas die ersten Gacaca-Verfahren (ab Juni sollen sie nun im ganzen Land stattfinden). Dabei war die Bereitschaft, an dieser Vergangenheitsbewältigung mitzuwirken, zunächst erkennbar groß: Je häufiger jedoch ein solches Gericht zusammentrat, um teils komplizierte Handlungsabläufe zu rekonstruieren, desto mehr sank das Interesse. Wenn immer wieder erfahrenes Leid erinnert werden musste, wenn immer länger auf Entscheidungen des Gerichts und auf Entschädigungszahlungen zu warten war, ließ sich absehen, dass davon eine lähmende Wirkung auf das Engagement der Menschen ausging. Die Volksgruppe der Hutu - ihr gehören nach wie vor über 80 Prozent der Ruander an, wenngleich im Sinne der nationalen Einheit heute nicht mehr offiziell von Hutu und Tutsi die Rede ist - wurde sich wieder ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit gewahr und blockierte die Aufklärung, weil sie sich pauschal als Tätergruppe diffamiert fühlte. An nicht wenigen Orten begleitet inzwischen beharrliches Schweigen die Verhandlungen der Gacaca-Gerichte.

Die Zweifel, ob sich diese Blockaden je wieder aufbrechen lassen, sind groß, nicht zuletzt aufgrund des wachsenden zeitlichen Abstands zu den Taten. Wahrscheinlicher ist, dass nach dem zehnten Jahrestag des Genozids etwa 30.000 Gefangene amnestiert werden. Das geschah schon einmal, Anfang 2003, als 25.000 Häftlinge vorläufig freigelassen wurden - vorläufig deshalb, weil sich die Betreffenden später noch vor Gacaca-Gerichten verantworten sollten, doch dazu kam es nie. Insofern spricht vieles dafür, dass künftig "vorläufige" Haftentlassungen "endgültige" sein werden. Für die Gerichte hätte das den Vorteil, sich auf schwer belastete Täter konzentrieren zu können. Für die Familien der Opfer - für die Überlebenden der Massaker überhaupt - wäre das auf jeden Fall unbefriedigend, doch häufig hört man in Ruanda: "On ne peut pas faire autrement" - "Wir haben keine Wahl".

Gerd Hankel

Der Autor ist Mitarbeiter der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Seit zwei Jahren arbeitet er in Ruanda, wo er sich vor allem mit der juristischen Seite der Vergangenheitsbewältigung befasst.


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