Es handele sich um „Scheinreferenden“, urteilten Kanzler Olaf Scholz und Präsident Emmanuel Macron, bevor die Abstimmungen in den von Russland kontrollierten Gebieten im Südosten der Ukraine überhaupt begonnen hatten. Solch schroffes Urteil war von Politikern aus NATO-Ländern nicht zu hören, als im September 2019 in dem von US-Truppen besetzten Afghanistan der ehemalige US-Bürger Ashraf Ghani dank offenkundiger Wahlfälschungen zum Präsidenten ausgerufen werden konnte.
Volksentscheide seit 1991
Doch wenn zwei dasselbe tun, ist das nicht das Gleiche. In vier Regionen haben die Referenden vom 23. bis 27. September stattgefunden, in den Verwaltungsgebieten Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson. Schon der Zeitdruck – nur drei Tage wa
1; nur drei Tage waren es von Wladimir Putins Ankündigung bis zum Beginn der Abstimmungen – zeigte, dass es dem Kreml nicht um breite Aussprache ging, sondern um rasche Resultate. Die Organisatoren der Kampagne haben gar nicht erst behauptet, dass Gegner des Beitritts eine faire Chance zum Wettstreit erhalten sollten. Russische Medien ließen vorwiegend Menschen in den von eigenen Truppen kontrollierten Gebieten der Ostukraine zu Wort kommen, die sich für Russland aussprachen. Wer die Geschichte des ukrainischen Südostens kennt, den konnte dies nicht verwundern. Das Streben von Millionen Bewohnern nach Russland ist keine Erfindung des Kremls, sondern so alt wie der im Zerfall der Sowjetunion entstandene neue ukrainische Staat.Bereits im Oktober 1991 – nur zwei Monate, nachdem die Ukraine sich für unabhängig erklärt hatte – verlangte der Oberste Sowjet der Krim einen Volksentscheid über die Zukunft der russisch geprägten Halbinsel. Im Mai 1992 dann beschloss das Krim-Parlament die Unabhängigkeit und eine eigene Verfassung. Die Regierung in Kiew erklärte dies umgehend für ungültig, und Russland, seinerzeit von Präsident Boris Jelzin regiert, übte Druck aus auf die gewählten Volksvertreter der Krim: Sie hätten sich Kiew zu fügen. Doch gab die pro-russische Bürgerbewegung auf der Krim nicht auf und setzte erneut eine Volksabstimmung an, die schließlich als „Meinungsumfrage“ deklariert werden musste. Das Votum vom 27. März 1994 hatte zum Resultat, dass sich gut 78 Prozent für eine souveräne Krim aussprachen. Um die gleiche Zeit fanden in den ostukrainischen Regionen Luhansk und Donezk ähnliche Befragungen statt. Dabei votierten im Bezirk Donezk 79,7 Prozent für einen föderativen Staatsaufbau der Ukraine und 87,2 Prozent für Russisch als zweite Staatssprache – in Luhansk taten das 90,4 Prozent.Die jetzigen Ergebnisse der umstrittenen Referenden in der Ostukraine können unabhängig nicht überprüft werden. Dass der von Moskau ausgehende Erfolgsdruck zu Manipulationen motiviert hat, davon kann ausgegangen werden. Ungeachtet dessen offenbart die große Zahl von Teilnehmern, wie gespalten die ukrainische Gesellschaft am östlichen Rand des Landes ist. Augenscheinlich hat die Regierung in Kiew seit 2014 nicht nur Gebiete verloren, sondern auch massenhaft Einfluss auf Menschen, die nunmehr Moskau und nicht Kiew als Schutzmacht sehen. Der ukrainische Staat droht nach einem neuen Gesetz Bürgern, welche die russische Staatsbürgerschaft annehmen, mit einer drakonischen Strafe von 15 Jahren Haft – kein Zeichen von Stärke, eher ein Eingeständnis für die Spaltung des Landes.Die Gründe für das Abdriften bisheriger ukrainischer Staatsbürger zu Russland sind vielfältig. Sie reichen von der Verweigerung einer Föderalisierung über das hohe Maß an Korruption, die Verbote von insgesamt elf Oppositionsparteien, den Beschuss ziviler Wohnviertel durch ukrainische Artillerie im Donbass seit 2014 – bis hin zu Versuchen, per Dekret die russische Sprache aus dem öffentlichen Raum zu verbannen.Die nahezu bedingungslose Unterstützung der ukrainischen Regierung durch die NATO-Staaten, besonders der Regierung in Berlin, hat nicht zu einer realistischeren Politik in Kiew beigetragen. So konnte eine Integration von Bürgern, die sich als Russen verstehen, nicht befördert werden. Mehr noch, Staatschef Wolodymyr Selenskyj setzt mittlerweile als Ziel nicht nur die Räumung der von Russland seit dem 24. Februar besetzten Gebiete, sondern auch die Rückgabe der Krim. Noch beunruhigender ist eine Äußerung von Andrij Jermak, Chef des Präsidialamtes, aus der vergangenen Woche, die Ukraine werde „die russische Frage lösen. Die Bedrohung kann nur mit Gewalt beseitigt werden“.Kanzler Scholz schweigt dazu und bekundet, die Bundesregierung werde das Ergebnis der „Scheinreferenden“ nicht anerkennen. Auf der Tagesordnung könnte sehr bald ein weitaus brisanterer Vorgang stehen: Die Aufnahme der vier umstrittenen Gebiete in die Russische Föderation durch einen vom russischen Präsidenten unterzeichneten Vertrag. Damit kommen diese Regionen unter den nuklearen Schutzschirm Russlands. In seiner Ansprache vom 21. September hat Putin erklärt, Russland werde seine „territoriale Integrität“ mit „allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln“ garantieren. Er erwähnte dabei ausdrücklich die Atomwaffen. Und er fügte hinzu, dies sei „kein Bluff“. Damit wird die Diskussion unvermeidlich, ob Deutschland an der Seite der USA weiter auf Waffenlieferungen an Kiew setzen sollte, auch wenn es seine Bevölkerung damit zumindest mittelbar dem Risiko eines Atomkrieges aussetzt. Die bittere Realität in den verwüsteten Städten und Dörfern der Ukraine lautet: Weder die russische Armee noch die ukrainischen Streitkräfte können auf absehbare Zeit die gesamte Ukraine kontrollieren. Eine für alle brandgefährliche Lage ruft nach Verhandlungen und nicht nach blinder Gefolgschaft gegenüber Joe Biden.