Es war eine großrussische Rede, die Präsident Wladimir Putin an diesem 21. Februar im Kongresszentrum „Gostiny Dwor“ am Rande des Roten Platzes in Moskau hielt. Er sprach gleich eingangs davon, Russland erlebe „eine schwere Zeit“, was der Bevölkerung eine „kolossale Verantwortung“ aufbürde. Diese Verantwortung, so Putin, gelte vor allem für „unsere historischen Gebiete“, gemeint sind die militärisch von Russland eingenommen Territorien im Südosten der Ukraine, die nach Moskauer Auffassung jetzt ein Teil Russlands sind.
Über seine Vorstellungen von der Zukunft der Ukraine machte Putin nur eine vage Andeutung. Er sprach von Gebieten, „die heute Ukraine genannt werden“. Ausländische Mä
he Mächte hätten diese Regionen immer wieder „von unserem Land losreißen“ wollen. Damit knüpfte er daran an, was imperiale Propagandisten in staatlich gelenkten Moskauer Medien seit Monaten verkünden: Die Ukraine solle ganz oder zumindest überwiegend ein Teil Russlands werden.Wie er die Ukrainer davon überzeugen will, sagte der Redner nicht. Den Anspruch auf die Macht in Kiew deutete Putin am Ende eher subtil an. Er zitierte den russischen Premierminister Pjotr Stolypin (1862 bis 1911) mit dessen Plädoyer für „das Recht Russlands, stark zu sein“. Zu Zeiten Stolypins war Kiew ein Teil des „Russischen Imperiums“, wie das Zarenreich seinerzeit offiziell hieß. Und in Kiew liegt Stolypin begraben. Der Vertreter einer repressiven, erzkonservativen Politik starb an den Schussverletzungen, die ihm ein linksradikaler Attentäter in einem Kiewer Theater zugefügt hatte. Dieser Politiker stand für eine wirtschaftliche Modernisierung unter Vorherrschaft eines autoritären Staates. Dass er sich auch innenpolitisch auf Stolypins Spuren bewegt, machte Putin in seiner Rede mehrfach deutlich.Er schlug vor, Wissenschaft und Technik großzügig zu entwickeln, auch mit Blick auf die militärische Nutzung. Mitarbeitern der Rüstungsindustrie versprach er staatlich subventionierte Mietwohnungen, denn schließlich arbeiteten sie nach der Losung: „Alles für den Sieg“.Präventiver SicherheitsstaatDer Westen, so Putin, trage die Verantwortung für den Krieg in der Ukraine. Er sprach von „National-Verrätern“ und meinte offenkundig die zu großen Teilen in den Westen emigrierte Opposition. Die westlichen Eliten wollten die Ukraine in ein „Anti-Russland“ verwandeln. Ihre Politik führe insgesamt zu einer „geistigen Katastrophe“ durch Aufgabe christlicher Werte und Propagierung von Pädophilie als „Norm ihres Lebens.“ Auch „zwinge“ der Westen Geistliche dazu, gleichgeschlechtliche Ehen zu segnen.Welche Kräfte den autoritären Staat in Russland künftig tragen sollen, dazu machte Putin eine womöglich folgenreiche Aussage. Offiziere, die sich in der „Militärischen Spezialoperation“ heldenhaft gezeigt hätten, so der russische Präsident, sollten künftig „auch im Zivilleben und auf allen Verwaltungsebenen“ gefördert werden. Die Perspektive eines präventiven Sicherheitsstaates, der im Kern aus einem militärbürokratisch geprägten Apparat bestehen soll. Ein solches System, gestützt auf einen kulturkonservativen Konsens, könnte sich als langfristig stabil und als Bremse jeder Liberalisierung erweisen.Dafür spricht nicht nur die konservative Prägung der russischen Mehrheitsgesellschaft, sondern auch die jüngere Geschichte eines Landes, dessen Erfahrung im Kampf gegen westliche Sanktionen russische Experten derzeit auswerten. Die Islamische Republik Iran ist aus Sicht des Kreml inzwischen ein Beispiel dafür, wie sich westliche Sanktions- und Regime-Change-Strategen zur Verzweiflung treiben lassen.Chinas InteressenWas Putin in seiner Rede gegen die „Sanktions-Aggressionen“ des Westens sagte, spiegelt wider, dass eine große Zahl russischer Experten, die dem Kreml zuarbeiten, die Folgen und Nebenwirkungen der Sanktionen sehr genau untersucht hat. Putin beschrieb die begrenzte Effizienz der Strafmaßnahmen. Der Westen habe eine „ökonomische Front“ gegen Russland eröffnet, werde sich damit jedoch „selbst bestrafen“.Genüsslich zählte er diverse Fehlprognosen über ein Einbrechen der russischen Wirtschaft auf und verwies auf eine offizielle Statistik, die für 2022 ein Sinken des Bruttoinlandsproduktes um 2,1 Prozent konstatiert. Ausführlich entwarf er die Grundzüge einer künftigen Außenwirtschafts-Strategie. Deren Hauptziel bestehe darin, die eigene Ökonomie an die Wachstumsmärkte Südostasiens zu koppeln.China wurde nicht namentlich erwähnt. Dennoch stand es während seiner Rede unsichtbar im Raum. Straßen- und Schienenwege, so Putin, sollen Russland künftig besser mit Asien verbinden. Russland kann dabei darauf bauen, dass die Kraft der westlichen Staaten nicht ausreicht, China, Indien und andere asiatische Staaten in ihre Sanktionsfront einzureihen. Auch bei zwei sicherheitspolitischen Aspekten wurde deutlich, dass Putin Chinas Position berücksichtigt, ohne sie direkt zu benennen. Der russische Präsident erklärte das START-Abkommen für ausgesetzt, aber nicht für aufgekündigt – eine für weitere Verhandlungen wichtige Nuance.Zudem machte Putin weder einen Vorschlag für Waffenstillstandssondierungen mit der Ukraine, noch sprach er sich dagegen aus. Chinesische Leser von Putin-Reden achten auf solche Feinheiten. Schließlich steht außer Frage, je mehr Russland nach Asien driftet, umso mehr müssen die Interessen Chinas berücksichtigt werden. Sie bestehen im Vermeiden einer Eskalation und der Suche nach einem für die Ukraine und auch für Russland erträglichen Kompromiss. Über die NATO und ihre nach seiner Ansicht „absurden“ Forderungen konnte Putin in seiner Rede nur spotten. Den Chinesen aber wird er aufmerksam zuhören.