Was der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow am 1. Mai angekündigt hat, klingt eindeutig: Die Armee der Ukraine habe die Ausgangslinie für die geplante Gegenoffensive erreicht. Jetzt sei nur noch die Frage, „wie, wo und wann“ sie beginne. Darüber, in welchem Frontabschnitt die Ukrainer russische Linien angreifen, spekulieren ukrainische, westliche und russische Militärexperten. Unstrittig ist: Das Oberkommando in Kiew kann nicht nur Panzer, Geschütze und Munition aus NATO-Ländern, sondern ebenso Aufklärungsdaten von Briten und Amerikanern nutzen.
Der US-Militärexperte Michael Kofman, langjähriger Analytiker der National Defense University, jetzt tätig für die staatlich finanzierte CNA Corporation, schaut bereit
aut bereits über die Gegenoffensive hinaus – die wichtigste Frage sei, „was danach passiert“. In der Ukraine, so der in Kiew geborene Kofman, habe sich die Erwartung an den Krieg gewandelt, „vom Überleben hin zum Sieg“. Dies berge Risiken. Die Erwartungen würden womöglich schneller wachsen als die Möglichkeiten der eigenen Streitkräfte. So hätten im August und September des Vorjahres militärische Erfolge im Raum Charkiw Hoffnungen auf einen weiteren Vormarsch geweckt, die nicht zu erfüllen waren. Kofman hält es für möglich, dass russische Verbände die bisherige Frontlinie dank motorisierter Truppen im Großen und Ganzen halten und durch Hunderttausende neu rekrutierter Soldaten verstärken.Mit einem ähnlichen Szenario rechnet auch der Moskauer Militärexperte Wladislaw Schurygin, einer der kenntnisreichen unter den systemloyalen Analytikern. Er geht davon aus, dass die ukrainische Offensive „nicht wie eine klassische Militäroperation im Geiste der Schlachten des Zweiten Weltkrieges“ aussehen wird. Die ukrainische Armeeführung werde „maximal umsichtig und berechnend“ vorgehen. Ähnlich wie 2022 im Großraum Charkiw wolle sie „schwache Abschnitte unserer Verteidigung erspüren“ und dann die Frontlinie „auseinanderdrücken“. Zudem werde „die Diversion auf russischem Gebiet noch wachsen“. Gemeint sind Drohnen-Angriffe wie der auf den Kreml Anfang Mai, bei denen nicht immer klar ist, ob die Attacken von ukrainischem Gebiet aus gestartet werden oder von proukrainischen Helfern in Russland. Gefahren drohten dabei, so Schurygin, sowohl von „Russen, die für Geld geworben wurden“, als auch von „Radikalen aller Richtungen“, die gegen die russische Staatsmacht kämpfen.Selenskyjs ProblemDie in Moskau diskutierten Szenarien zeigen, dass die Konfrontation zwischen Moskau und Kiew nicht nur nebenher zum Krieg an einer unsichtbaren Front geworden ist, was Folgen für die innere Verfassung Russlands hat. Die Angst vor Drohnen-Angriffen und proukrainischen Untergrundkämpfern erhöht das Gewicht der Geheimdienste, vor allem des mächtigen, einst von Wladimir Putin geleiteten Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB). Der Krieg liefert einen willkommenen Anlass, das System eines prophylaktischen Polizeistaates auszubauen. Dabei steht jede vom Staat nicht kontrollierte politische Tätigkeit zwangsläufig unter dem Verdacht, vom Feind gesteuert zu sein. Den Krieg auch als Abwehr von „Diversanten“ zu führen, dürfte das Regime stabilisieren. Allein die Führung entscheidet über die Hausordnung einer belagerten Festung.Schon aus diesem Grund hat man in Moskau keinen Grund, ein möglicherweise ungünstiges Ergebnis ukrainischer Angriffe als Anstoß für einen Waffenstillstand zu deuten. Hauptsächlich zwei Argumente aus dem Umfeld des Präsidenten kristallisieren sich schon jetzt heraus: militärische Erfolge der Ukraine lediglich als politisch wertlosen Pyrrhussieg erscheinen zu lassen und auf eine Wiederwahl Donald Trumps im nächsten Jahr zu setzen. Mit ihm als Präsident könnte sich das Verhältnis zu den USA entspannen und ein für Russland günstiges Arrangement denkbar sein. Hinzu kommt, dass die eigene Wirtschaft, vorrangig die durch persönliche Interventionen Putins bei Betriebsdirektoren angetriebene Rüstungsindustrie, einen Abnutzungskrieg gegen die Ukraine offenkundig noch jahrelang tragen kann.Fraglich ist nicht zuletzt, ob die Führung um Wolodymyr Selenskyj nach einer Offensive an einer Waffenruhe interessiert sein wird. Dazu fehlt in Kiew nicht nur jegliches Vertrauen gegenüber der jetzigen russischen Regierung als potenziellem Vertragspartner. Es käme hinzu, dass Selenskyj selbst bei einem günstigen Ausgang einer Offensive vor einem für ihn unlösbaren Problem steht: Aller Voraussicht nach blieben auch danach von der Ukraine beanspruchte Gebiete, vor allem die Krim und Teile des Donbass, unter russischer Kontrolle. Jeder mit Moskau vereinbarte Waffenstillstand käme einem zeitlich unbegrenzten Verzicht auf diese Gebiete gleich – eine Steilvorlage für innenpolitische Gegner Selenskyjs. Unter diesen Umständen wäre Kiew auch nach Gebietsgewinnen weit von einem Sieg entfernt.