Eine bei westlichen Politikern gefürchtete politische Waffe will der Kreml gegenwärtig nicht einsetzen: Die eines konkreten diplomatischen Angebotes für einen Verhandlungsfrieden in und mit der Ukraine. Wer in diesen Tagen Hintergrundgespräche mit Diplomaten oder Mitarbeitern von Thinktanks in Moskau führt, kann einen Konsens spüren, der von der Hauptstadt ins Land ausstrahlt. Dieser hat sich vorrangig auf die Formel verständigt, es wäre am besten, würde die russische Armee früher oder später die gesamte Ukraine kontrollieren. Verhandlungen über eine wirksame Feuerpause werden hingegen nur noch vage als Option gesehen.
Unmissverständlich äußerte sich am 25. Mai Dmitri Medwedew – russischer Staatschef von 2008 b
von 2008 bis 2012, heute stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrates – in seinem Telegram-Kanal. Er skizziert dort drei Szenarien für den weiteren Verlauf und den Ausgang des Konflikts um die Ukraine. Das erste sieht vor, dass deren westliche Gebiete „unter die Kontrolle einer Reihe von Staaten der Europäischen Union kommen“. Zugleich werde eine „neue Ukraine“ ohne die Westgebiete mittelfristig der NATO beitreten. Dieser Weg werde zum „Wiederaufleben des bewaffneten Konfliktes“ mit Russland führen, der dadurch „zu einem permanenten“ werde, mit der Gefahr eines Abgleitens „in einen vollständigen Dritten Weltkrieg“.Eine zweite Variante könne dazu führen, „dass die Ukraine nach der Beendigung der Speziellen Militäroperation verschwindet“. Dies werde zu einer Aufteilung „zwischen Russland und einer Reihe von Staaten der Europäischen Union“ führen. Als Folge werde sich in Europa eine ukrainische Exilregierung bilden. Ein drittes Szenario sieht ebenfalls eine Vereinigung der Westgebiete der Ukraine mit der EU vor. Das „Volk zentraler Gebiete der Ukraine“ jedoch werde „seine Selbstbestimmung durch den Beitritt zur Russischen Föderation erklären“. Diese „Bitte“ werde man erfüllen. Ergebnis: „Der Konflikt endet mit langfristig ausreichenden Garantien, sodass er nicht wieder ausbricht.“Medwedew ist zwar kein überaus relevanter Entscheidungsträger mehr, doch er gilt mit seinen brachialen Urteilen als eine Art Markenzeichen, gegen das Präsident Wladimir Putin wie die personifizierte Mäßigung erscheint. Die drei Szenarien reflektieren zugespitzt „Wunschvorstellungen“, die in Teilen der russischen Führungselite Gemeingut geworden sind. Die Vorstellung einer totalen Niederlage der Ukraine zieht sich wie ein roter Faden durch öffentliche Äußerungen seit Jahresbeginn. In seiner Neujahrsansprache, die er vor Soldaten hielt, sagte Putin über die Ukraine, „in den neuen Subjekten der Russischen Föderation“ kehre man auf „historische Territorien“ zurück.Russland will keinen Waffenstillstand nach koreanischem VorbildGemeint waren damit die am 30. September 2022 durch international nicht anerkannte „Referenden“ Russland beigetretenen Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischija und Cherson. Der Kampf um diese Territorien, so Putin, lege „die Grundlage für unsere allgemeine Zukunft, unsere echte Unabhängigkeit“. Gut einen Monat später erklärte der Präsident in einer Rede zum Jahrestag der Schlacht um Stalingrad von 1942/43, die „Standhaftigkeit der Verteidiger“ dieser Stadt zeige, dass es für „europäische Länder“ nicht möglich sei, „einen Sieg über Russland auf dem Schlachtfeld zu erringen“. Und in seiner alljährlichen Botschaft zur Lage der Nation, der „Poslanje“, bekannte sich Putin am 21. Februar zu einem langfristigen Programm der Aufrüstung von Armee und Flotte durch „modernste Technologien“, und zwar „in Serienproduktion“. Die Ukraine als „Projekt Anti-Russland“, so Putin, werde genutzt, „Aggression nach Osten zu richten“. Die logische Schlussfolgerung ist, den Krieg fortzusetzen, bis die Ukraine Teil eines russischen Projektes ist.Am 23. Mai wurde das im Kreml nachdrücklich bekräftigt, als sich Putin mit Waleri Zorkin, dem Vorsitzenden des Verfassungsgerichtes, traf und im Gespräch äußerte, ukrainische Gebiete hätten sich zeitweilig im Bestand der polnischen Adelsrepublik befunden und dann „um ihre Aufnahme in das Moskauer Zarenreich gebeten“. Später, nach der Oktoberrevolution von 1917, hätten sich auf ukrainischem Terrain „alle möglichen quasi-staatlichen Gebilde“ formiert. Dann erst habe „die Sowjetmacht die sowjetische Ukraine geschaffen“. Putin schloss das Thema mit dem Satz: „Bis dahin gab es keine Ukraine in der Geschichte der Menschheit.“Diese Worte fielen zwei Tage, bevor Medwedew die drei Szenarien in seinen Telegram-Kanal stellen ließ. In der Gesamtheit bedeuten all diese Aussagen, dass die russische Führung sich auf einen jahrelangen Krieg einstellt, mit dem Ziel, einen Großteil der Ukraine in die Russische Föderation einzufügen.Im ersten Kriegsjahr hatten Mitarbeiter Moskauer Thinktanks und Experten für internationale Politik an russischen Universitäten noch zaghaft Varianten des Ukraine-Konflikts unter dem Stichwort „koreanische Lösung“ diskutiert. Dies betraf die Erinnerung an den Waffenstillstand, wie er im Juli 1953 zustande kam, um den Krieg in Korea aufzufangen. Am 24. Mai 2023 erschien nun in der Regierungszeitung Rossiskaja Gaseta ein Beitrag, der signalisierte, dass die Moskauer Führung auf keine koreanische Lösung setzt. Der Autor des Textes, der Politologe Alexej Muchin, gilt in Moskau als kremlnaher Analytiker, der das persönliche Wohlwollen Putins genießt. Muchin schrieb, Russland solle die „militärische Spezialoperation“ konsequent zu einem Ende führen und Verhandlungen nach einer Kapitulation der Ukraine beginnen – „mit dem, was von ihr noch übrig bleibt“. Begründung: Ein „Einfrieren“ des Konfliktes würde „der Ukraine und den Ländern des Westens nur eine Atempause“ geben und allein dazu genutzt, „die Ukraine weiter mit Waffen vollzustopfen“. Die Konsequenz ist klar. Der Krieg soll so lange fortgesetzt werden, bis die Ukraine als potenzieller Partner der NATO ausfällt.