Zu Beginn seiner Präsidentschaft im Mai 2008 fiel das Eingeständnis bei einem Spaziergang mit einem liberalen russischen Politiker auf dem Kremlgelände: „Alles, was ich bin, bin ich durch ihn geworden.“ Mit „ihm“ war Wladimir Putin gemeint, der sich nach der Wahl Dimitri Medwedews zum russichen Präsidenten scheinbar bescheiden auf das Amt des Ministerpräsidenten zurückgezogen hatte.
Einer breiten Öffentlichkeit war Dmitri Medwedew erstmals im Juni 2000 bei einer Pressekonferenz in Moskau bekannt geworden. Der jungenhaft wirkende, etwas pausbäckige, damals 34-jährige Jurist war zum Aufsichtsratsvorsitzenden des Energiegiganten Gazprom avanciert. Zuvor hatte er Putins persönlichen Stab zur Präsidentenwahl geleitet.
geleitet. Im Oktober 2002 ernannte der seinen Vertrauten dann zum Leiter der Präsidentenadministration, zwei Jahre später stieg Medwedew zum Ersten Vizepremier in der Regierung auf. Die Funktion eröffnete ihm Ende 2007 den Weg zum Präsidentschaftskandidaten der Partei „Einiges Russland“.Voraussetzung für diesen steilen Aufstieg war eine frühe Anbindung an Wladimir Putin. Als der in den 1990er Jahren Vizebürgermeister von St. Petersburg war, hatte der Jurist Medwedew aus dem Vorort Kuptschino bereits bei der Privatisierung von Wirtschaft und Immobilien als Advokat mitgewirkt. Er erwies sich stets als absolut loyal und genoss die damit verbundenen materiellen Vorteile. Wie viel er selbst bei der ursprünglichen Akkumulation des neuen russischen Beamten- und Oligarchen-Kapitalismus für sich verbuchen konnte, blieb im Dunkeln. Bekannt ist, dass Medwedew zeitweilig Anteile an Europas größtem Zellulosewerk in Korjaschma in der Region Archangelsk im Norden besaß. Als er sich um das höchste Staatsamt bewarb, wurden indes nur Ersparnisse von umgerechnet 16.111 Euro geltend gemacht. Ehefrau Swetlana befand sich nach den offiziellen Angaben zu ihrem Gesamtvermögen sogar deutlich unter der Armutsgrenze. Doch nahm an dieser Camouflage kaum jemand Anstoß. Der seinerzeit 42-jährige Medwedew zog 2008 im Wahlkampf gegen den „Rechtsnihilismus“ zu Felde und geißelte mit strengem Blick die Korruption. Medwedew erfreute liberale Wähler und viele Journalisten mit der Banalität des Guten: „Freiheit ist besser als Unfreiheit.“ Wer wollte da widersprechen? Der Kandidat stellte eine Justizreform in Aussicht und weckte Hoffnungen auf die Liberalisierung eines hierarchisch-bürokratischen Staates.Als er dann Staatschef war, beschränkten sich Medwedews Reformen zwischen 2008 und 2012 mehr auf Kosmetisches. Die bis dahin in sowjetischer Tradition als „Miliz“ firmierenden Ordnungskräfte wurden in „Polizei“ umbenannt. Qualitative Fortschritte konnten Bürgerrechtler darin nicht erkennen, auch bei der Bekämpfung der Korruption gab es kaum den gewünschten Erfolg. Dass manche Beobachter früh einen realistischen Blick auf die damalige Machtbalance in der russischen Führung hatten, zeigen Depeschen der US-Botschaft in Moskau, die Wikileaks veröffentlichte. Im August 2008 kabelten US-Diplomaten nach Washington, Medwedew haben angesichts des starken Premiers Putin nur einen „Status als Juniorpartner des Tandems“.Rund dreieinhalb Jahre nach Übernahme der Präsidentschaft verkündete Medwedew 2011, er werde sich um keine zweite Amtszeit bewerben und schlug Vorgänger Putin als Nachfolger vor. Das sei, so Medwedew mit prätentiöser Miene, „eine tief durchdachte Sache“. Die höchst manipulativ wirkende Rochade stieß im Land auf spürbaren Widerstand. Nach der Duma-Wahl im Dezember 2011 und bis zur Präsidentenwahl am 4. März 2012 kam es vorzugsweise in Moskau zu massiven öffentlichen Protesten.Offenkundig als Dank für seine Loyalität wurde Medwedew nach Putins Rückkehr ins Präsidentenamt zum Premierminister ernannt. Dort erwies sich der Professorensohn, wie im Apparat bald moniert wurde, als wenig effektiv. Der in vielen Fragen zögerliche Putin hielt Medwedew dennoch jahrelang im Amt, ehe er ihn im Januar 2020 ablöste und durch den Steuerfachmann Michail Mischustin ersetzte. Medwedew ist seither stellvertretender Sekretär des Sicherheitsrates und stand lange im Schatten des mächtigen Putin-Vertrauten und Sekretärs dieses Gremiums, Nikolai Patruschew. Der frühere Direktor des Inlandsdienstes FSB, zudem ein Veteran des sowjetischen Geheimdienstes KGB, koordiniert alle Sicherheitsorgane. Patruschew obliegt es außerdem, den Präsidenten mit Analysen und Berichten aus aller Welt zu versorgen. Ein Nachteil für Medwedew, der nie zuvor in einem der Sicherheitsdienste tätig war. Wie sich das auswirken kann, offenbart die Entscheidung des Sicherheitsrates, ihn mitten im Ukraine-Krieg mit der Organisation der Gedenkfeiern zum 80. Jahrestag der Schlacht um Stalingrad im Februar 2023 zu beauftragen. Möglichen Bedeutungsverlust kompensiert Medwedew derzeit als wortgewaltiger Hardliner. Vorbei ist die Zeit des Präsidentenwahlkampfes von 2008, als Medwedew mahnte, man dürfe sich an Russlands Größe „nicht berauschen“.Der Medwedew von heute klingt anders. Kurz nach Kriegsbeginn Ende Februar verkündete er bei Twitter, Russland brauche gar keine Beziehungen zum Westen. Mal nennt er polnische Politiker „eine Bande von Schwachsinnigen“, dann wieder orakelt er darüber, ob die Ukraine „in zwei Jahren überhaupt noch auf der Weltkarte existieren“ werde. Dabei ist die Metamorphose des Dmitri Medwedew vom „Reformer“ zum Restaurator und Schocker im Staatsschaufenster wohl folgerichtig für einen Mann, dessen Lebensweg mehr von Labilität statt Liberalität bestimmt ist.