Dass sie zu Gast in einer Art Fort waren, konnten die Teilnehmer des internationalen Diskussionsklubs „Waldai“ am Nachmittag des 27. Oktober auf dem Gelände des Imperial Park Hotels an der südlichen Peripherie von Moskaus spüren. Soldaten mit Feldstechern beobachteten misstrauisch den Mischwald der Umgebung. Ein Sicherheitskorps in schwarzen, kugelsicheren Westen stand vor einer Treppe, die hinunterführte in die „Grand Arena“ des Hotelkomplexes. Vor deren Eingang prüften Ordnungshüter die Identität und das Gepäck der Besucher. In dem Saal der Arena, getaucht in bläuliches Licht, wurde Russlands Präsident erwartet.
Vor gut 120 Politologen, Diplomaten, Historikern und NGO-Mitarbeitern aus 41 Staaten wollte Wladimir Puti
dimir Putin in einem Vortrag sein Weltbild skizzieren. Er machte für die „Entfesselung des Krieges in der Ukraine“ den Westen verantwortlich. Der bestreite in Gestalt liberaler Eliten „die Souveränität von Ländern“ und verliere sein „schöpferisches Potenzial“. Die liberale Ideologie habe sich „bis zur Unkenntlichkeit verändert“. In ihrem Einzugsbereich werde inzwischen „jeder alternative Gedanke“ als „feindlich“ und „als Machenschaft des Kreml“ abgelehnt. Sein Land aber, so Putin, sei „kein Feind des Westens“ und lehne „Anti-Amerikanismus“ und „Germanophobie“ ab.Gipfel mit AfrikaDer Präsident stellte dem „aggressiven, kosmopolitischen, neokolonialen Westen“ den traditionellen christlichen, aber auch den „antiken Westen“ gegenüber. Man stehe vor einer „revolutionären Situation“, in der „die unipolare Welt verschwindet“. Keine Frage, dass damit die Dominanz des Dollars und der USA gemeint ist. In der fast dreistündigen Debatte danach meinte Putin, er stehe „an der Seite einfacher Leute und nicht der goldenen Milliarde“. Dabei erwähnte er dreimal Afrika, mit dessen Staaten Russland für den Sommer 2023 einen Gipfel vorbereite. Putin sprach vom „kolossalen Potenzial“ eines Kontinents, auf dem Russland „sehr viele Freunde“ habe. Moskau könne sich auf „ein Fundament unserer Beziehungen aus sowjetischen Zeiten“ stützen.Den Krieg in der Ukraine bedauerte er als „ein tragisches Ereignis“, entstanden aus einer „unvermeidlichen Logik der Ereignisse“ – als sei der Krieg nicht vor allem auf seine Entscheidung zurückzuführen. Zuweilen klang er wie ein Schachspieler, der beschreibt, dass er in Zugzwang geraten ist.Die politischen Ziele seines militärischen Eingreifens in der Ukraine ließ er weitgehend offen. „Das Wichtigste“ der Operation sei „die Hilfe für den Donbass“, zudem, so Putin, habe der Krieg zu einer „Festigung unserer Souveränität“ geführt. Aber Russland sei „bereit zu Verhandlungen“. Die „Führer des Kiewer Regimes“ hätten nur leider „entschieden, keine Verhandlungen zu führen“. Einen konkreten Vorschlag für einen Waffenstillstand allerdings machte er nicht. Putin behauptete, der Krieg in der Ukraine sei „teilweise“ ein Bürgerkrieg, ohne dies näher zu begründen.In den Debatten des Waldai-Klubs in den Tagen vor Putins Auftritt hatten Teilnehmer aus neutralen Ländern für einem baldigen Verhandlungsfrieden mit der Ukraine plädiert. Sie hatten in dreieinhalb Tagen in mehreren Panels debattiert über Wege zu einer „Welt ohne Supermächte“, in der „Gerechtigkeit und Sicherheit für alle“ herrsche. Anstoß dazu waren die neuen Thesen des Waldai-Klubs selbst, verfasst von sechs Moskauer Politologie-Professoren unter Federführung von Fjodor Lukjanow. Darin heißt es, die „schrittweise geschwächte amerikanische Führerschaft“ in der Welt stelle die Rolle des Dollars als maßgeblicher Reservewährung infrage. Die USA verlören den Status einer Supermacht. Das „Ende der Hegemonie“ Amerikas führe „zur Rückkehr des Krieges als neuer internationaler Realität“. Künftige „Mechanismen einer internationalen Steuerung“, so die Thesen, könnten „nicht ausgehen von einer einheitlichen Basis der Werte und Ideen“. Nötig sei es vielmehr, „den Pluralismus der Meinungen und Einschätzungen“ zu achten. Ziel müsse sein, dass „die Anwendung militärischer Gewalt kein entscheidender Faktor in der Perspektive“ mehr sein sollte. Zugleich kommen die Autoren zu dem Schluss, selbst nach einem Ende des Krieges in der Ukraine sei bestenfalls ein „kalter Frieden“ zwischen Russland und dem Westen zu erwarten.Vorrangig die Teilnehmer aus dem Globalen Süden betonten, der Krieg in der Ukraine solle so bald wie möglich beendet werden. Denn, so ein indischer Diplomat: „Je länger der Krieg dauert, desto höher werden die Kosten.“ Deutlich formulierte es auch ein Vertreter einer afrikanischen Jugendorganisation aus Ghana: „Der Konflikt in der Ukraine hat negative Folgen. Wir brauchen Harmonie, Fairness und inklusive Plattformen.“Für ein rasches Kriegsende setzte sich ebenfalls der Leiter einer chinesischen Denkfabrik, der Geschäftsmann und Analytiker Nelson Wong, aus Shanghai ein: „Krieg ist keine Lösung. Mehr Waffen und Söldner sind es ebenso wenig.“ Auch die USA, so Wong, seien bislang in der Ukraine eher Teil des Problems als der Lösung: „Der US-Weltpolizist läuft nicht mehr.“ Nelson Wong, ein Mann mit jahrzehntelanger Erfahrung im Westen, empfahl „Verhandlungen auch über dritte Kanäle“, wohl eine Anspielung auf Chinas Potenzial. Eine Gegenposition bezog ein ins Imperiale gewendeter, einst liberaler Moskauer Professor, der mit strengem Blick den Hardliner gab. Die Kernsätze seiner Kriegsapologie lauteten: „Der Gegner muss begreifen, dass er nicht gewinnen kann.“ Doch räumte auch dieser russische Teilnehmer ein, es gehe „jetzt darum, einen dritten Weltkrieg zu verhindern“.Wie dies zu erreichen sei, wurde auf dem Waldai-Forum in einem für die Presse gesperrten Gesprächskreis über die Lehren aus der Kuba-Krise von 1962 diskutiert. Dort sprachen in einer sehr ernsten und sachlichen Atmosphäre erfahrene Insider amerikanischer und russischer Sicherheitsstrukturen über Wege, ein nukleares Inferno zu verhindern. Aufmerksam und mit gegenseitigem Verständnis redeten Experten miteinander, die einst als Gegenspieler für den Nationalen Sicherheitsrat der USA und die russische Auslandsaufklärung tätig waren. Offenbar gab es Einvernehmen darüber, vertrauliche Dialogkanäle zu pflegen, um gefährliche Fehlkalkulationen auszuschließen. Den gemeinsamen Nenner formulierte ein Experte aus Pakistan: „Wir müssen alle Kanäle nutzen, nicht alle Waffen.“ Er verwies dabei auf diskrete und wirksame Konsultationen, wie sie zwischen den beiden verfeindeten Atommächten Indien und Pakistan üblich seien.