German Weitsicht

Atomausstieg Der Bundestag beendet eine Ära: Deutschland steigt aus der Kernkraft aus. Die neuen Energien werden unseren Alltag radikal verändern. Davor muss niemandem bange sein

Niemand, auf keiner Seite der noch nicht abgebauten Barrikaden, muss nach der opulenten Mehrheit, mit der Angela Merkels Ausstiegfahrplan den Bundestag passiert hat, fürchten, dass die Jahrzehnte der fundamentalen Kämpfe um unsere Energiezukunft abrupt enden. Sie tun das schon deshalb nicht, weil es um viel mehr geht als um Energie.

Mit dem nun politisch kaum mehr rückholbaren Atomausstieg haben wir uns nicht nur gegen eine Hochrisikotechnologie entschieden, sondern auch gegen eine lange dominierende Vorstellung von der Zukunft. Schon in den achtziger Jahren propagierten die Antipoden glasklare Alternativen: Weiter auf dem „harten (Wachstums-)Pfad“, der mit der Kohle begann und der Perspektive Atomkraftwerke, Schnelle Brüter, Fusionsreaktoren weitergehen sollte, oder Einschwenken auf den „weichen Pfad“ mit Sonne, Wind und Wasser. Als erste große Industrienation hat sich Deutschland jetzt entschieden.

Bei aller Demut, die wir Deutsche gelernt haben: Die Energiewende ist wichtig für uns – aber möglicherweise wichtiger für die Welt. Wenn die viertgrößte Volkswirtschaft beschließt, den „harten Pfad“ zu verlassen, ist das ein Signal, das keinen Verantwortlichen in Frankreich, Japan oder den USA kalt lässt. Und schon gar nicht in China. Klaus Töpfer, der letzte deutsche Internationalist, hat recht: Jetzt muss es nur noch gelingen. Der „weiche Pfad“ muss funktionieren. Das – und nicht die Jahreszahl des Atomausstiegs – ist der Lackmustest, der die Welt interessiert. Wehe, wenn es nicht gelingt.

Ein Gebirge von Problemen

Deshalb fängt die Arbeit jetzt erst an. Und glaube niemand, das seien schon die Mühen der Ebene. Da steht noch ein Gebirge von Problemen. Darunter Altlasten wie die neun verbleibenden Atomkraftwerke, die mit zunehmendem Alter tendenziell störanfälliger werden. Und Gorleben, der einzige politische Salzstock der Welt. Dessen als „Erkundung“ mühsam verbrämter Ausbau zu einem Atomendlager muss schon deshalb beendet werden, weil der Weiterbau jeden Konsens und jeden Neuanfang zu blockieren droht.

Diese deutsche Gesellschaft hat nach Fukushima eine selbstbewusste Entscheidung getroffen, mit einem klaren Ergebnis nach fast vier Jahrzehnten der Diskussion im Westen und zwei im Osten. Diese Entscheidung wird – und die Menschen wissen es – grundstürzende Umwälzungen zur Folge haben. Bis hinein in ihren Alltag. Wir werden anders mobil sein, uns anders ernähren und anders wohnen. Aber wir benötigen auch neue Infrastrukturen, neue Produkte und in der Folge eine neue Wirtschaft. Doch keine Sorge, diese Umwälzungen werden am Ende nicht größer sein als die der Vergangenheit, und sie werden nicht zu Lasten der Lebensqualität gehen. Wenn wir es richtig machen.

Dabei steht die technische Machbarkeit nur scheinbar im Vordergrund. Die Transformation des Energiesystems ist eine Herausforderung. Wie die Lichter an einem kalten und dunklen Novemberabend des Jahres 2040 anbleiben, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht, ist nicht wirklich geklärt. Doch selbstverständlich werden die Ingenieure es klären, sie haben 30 Jahre Zeit. Sonst wäre Deutschland nicht mehr Deutschland.

Auf Dauer kein Selbstläufer

Es richtig zu machen, bedeutet für die Politik vor allem, die überwältigende Unterstützung, die die Energiewende heute erfährt, zu hegen und zu pflegen. Sie ist auf Dauer kein Selbstläufer. Energie ist Lebensqualität, aber die Kilowattstunde Strom, der Liter Sprit, das Öl im Keller werden unweigerlich teurer, weil die fossile Erbschaft und der atomare Wahn, die den beispiellosen Zivilisationssprung der vergangenen 200 Jahre möglich machten, fast gleichzeitig zu Ende gehen.

In wenigen Jahrzehnten werden wir energetisch wieder von der Hand in den Mund leben wie ehedem unsere Altvorderen. Wir werden auskommen müssen mit dem, was die Sonne aktuell liefert. Richtig, sie schickt uns keine Rechnung, doch ihre verdünnte Lieferung einzusammeln, hat seinen Preis. Deshalb ist Effizienz der Schlüssel. Die neue, alte Energie bleibt für jedermann bezahlbar (Arbeit schafft sie ohnehin), wenn wir sie effizienter einsetzen. Im Idealfall steigen die Energiepreise, aber die Energiekosten sinken. Diesem Idealfall nahezukommen ist vielleicht die größte Herausforderung.

Die, die mit Fukushima endgültig verloren haben, lecken ihre Wunden. Die Großmänner und ihre Helfershelfer stehen heute auf verlorenem Posten – und sie wissen es. Ausgerechnet in dieser Woche fordern sie ein Moratorium beim Ausbau der er­neuer­baren Energien. So groß ist die Verzweiflung, nachdem auch schon der Versuch gescheitert war, die „Benzinwut“ an den Zapfsäulen als „Stromwut“ am Stromzähler wiederzubeleben. Sie werden keinen Resonanzboden finden, solange die neue Energie bezahlbar und verfügbar bleibt.

Aufhören wird die merkwürdige Übung, als „German Angst“ zu denunzieren, was sich angesichts der Dreifach-Kernschmelze in Fernost eben erst als „German Weitsicht“, nämlich hoch rationale Interpretation der atomaren Wirklichkeit, erwiesen hat. Nur weil Hunderttausende in diesem Land mit der Energiewende begonnen haben, als Angela Merkel noch die Dagegen-Kanzlerin war, konnte sie jetzt die Spitzkehre vollziehen. Die „German Weitsicht“ ist bei der Kanzlerin angekommen. Immerhin.

Gerd Rosenkranz ist Leiter Politik der Deutschen Umwelthilfe. Davor war er lange Zeit Spiegel-Redakteur

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