Wenn Finsternis den Tag beherrscht

Nordirland Stuart Nevilles „Blutige Fehde“ war ein packendes Debüt. Aber der zweite Teil der Geschichte um den einstigen IRA-Killer Gerry Fegan ist leider missraten
Wenn Finsternis den Tag beherrscht

Foto: Noel Celis/AFP/Getty Images

Der ehemalige Bäcker, Musiker und Verkäufer Stuart Neville hat seinen zweiten Thriller geschrieben; in Handling, Personal und dem Hauptschauplatz Belfast schließt er dicht an sein Debüt an. Auch die politischen Kämpfe, die Neville bis in ihre brutalen unterweltlichen Metastasen verfolgt, sind meist dieselben geblieben. Wieder geht es um die kriminellen Verflechtungen der protestantischen und katholischen Parteiungen, der britischen und der nordirischen Politik mit den organisierten Verbrecherbanden. Das Hauptgewicht der Erzählung liegt auf den einzelnen Aktionen, ihre Verbindung zu einer kohärenten Kriminalhandlung ist oberflächlich und wohl mehr ein Zugeständnis an den traditionellen Lesegeschmack.

Den Erzbösewicht, dem keine Unmenschlichkeit fremd ist, spielt wie im ersten Roman Bull O’ Kane, eine so stumpfe wie bösartige Bestie, die immer noch alte Rechnungen begleichen muss, besonders mit Gerry Fegan, den vor Schuldbewusstsein verrückt, also menschlicher gewordenen, ehemaligen IRA-Kämpfer. Also heuert O’Kane eine Killermaschine, genannt „Der Nomade“, an und lässt die unsicheren Kantonisten unter seinen einstigen Gefolgsleuten liquidieren. Nur Fegan, der sich nach den USA abgesetzt hat, bleibt noch ungreifbar. Doch eine Schwachstelle gibt es, das ist Marie, die Fegan heimlich liebt, und ihre kleine Tochter Ellen.

An dieser Stelle tritt nun eine neue Figur ins blutige Spiel, der Polizeiinspektor Lennon, Ellens Vater und ehemaliger Geliebter Maries, der längst bereut, die beiden nach der Geburt des Mädchens verlassen zu haben. Fegan kehrt aus New York zurück nach Belfast, als er erfährt, dass O’Kane Ellen und ihre Mutter von dem Nomaden hat entführen lassen. Lennon und Fegan kämpfen bald Seite an Seite gegen den blutrünstigen Drachen der Unterwelt. Das Ende ist, auch hierin dem ersten Bandes sehr ähnlich, ein apokalyptisches Blutbad, mit allen denkbaren Formen grausamer Zerfleischung. Kein Zweifel, dieser zweite Roman ist ein Abbild des ersten. Und wenn sich Fegan zuerst mit eingebildeten Erscheinungen seiner früheren Opfer herumzuplagen hatte, so sind es diesmal Albträume von „kinderfressendem Feuer und Rauch“, die ihn heimsuchen.

Verfolgung und Liebe

Aber sind das Argumente gegen Nevilles neuen Roman? Bertold Brecht, ein Kenner und Liebhaber seiner zeitgenössischen Kriminalliteratur hat dagegen lakonisch notiert: „Wer, zur Kenntnis nehmend, dass ein Zehntel aller Morde in einem Pfarrhof passieren, ausruft: ‚Immer dasselbe!‘, der hat den Kriminalroman nicht verstanden.“ An solch musterhaftem Reiz, der auch ein Reiz des Musters ist, hat der Thriller seinen Teil und Brecht hat übrigens auch für dessen politische Variante das Motto formuliert: „Ein Abenteuerroman könnte kaum anders geschrieben werden als ein Kriminalroman: Abenteuer in unserer Gesellschaft ist kriminell.“

Belfast, Nordirland, im Übergang von einer Kriegs- zu einer Zivilgesellschaft, bietet einen idealen Raum für solche Abenteuer. Doch während der erste Roman noch ein entfesseltes Panorama des Verbrechens bot, dem sich nur wehrlose Opfer verweigerten, so tritt in Blutige Fehde nun doch ein positiver Held hervor, jener blonde Inspektor Lennon, eine ziemlich untadelige Ausnahmeerscheinung in dem sonst durch und durch korrupten Polizeiapparat.

Lennon ist ein Held, der Nevilles Thriller wieder näher an den traditionellen Abenteuer- und Kriminalroman heranführt.

Eine Welt, die von Grund auf böse ist

Nicht unbedingt zu seinem Schaden. Der Polizist taugt für die identifikatorischen Bedürfnisse des Lesers besser als Gerry Fegan, dem man seine Sympathie nur unter Vorbehalt schenken mag: denn ein Killer ist er ja geblieben, wenn auch nicht mehr für die IRA, sondern unterm Diktat des eigenen Gewissens. Gleichwohl ist er die interessanteste Erfindung Nevilles, denn in seiner Person zeigt sich konzentriert die Faszination einer Welt, die von Grund auf böse ist, die immer weiter Böses gebären muss. Das gilt für die Politiker, die in ihren früheren Untergrunds-Leben Verbrecher waren, wie für die willfährigen Helfer, die ihnen heute noch zu Gebote stehen. Es gilt für die Polizisten, die im Dienste des Verbrechens alles fälschen, was Recht, Gesetz und bürgerliche Ordnung fordern. Und es gilt für die Randfiguren, die Barkeeper, Ärzte und Richter, sie alle sind infiziert vom Feuer der Hölle, das in beiden Romanen das Ende markiert.

Hier nun kommen wir der eigentlichen Wirkursache für den Erfolg der beiden Romane sehr nahe. Es ist „wunderlichste Metaphysik“ (Ernst Bloch) in kolportierter Form, wie sie nicht erst der Glaube an den Sündenfall in die Welt gesetzt hat. Neville zeichnet das Bild einer Welt, in der Ordnung kaum notdürftig das urtümliche Chaos ein wenig kaschiert, in der Regellosigkeit die Regel, Finsternis den Tag beherrscht und das Verbrechen den Normalfall darstellt. Urangst vor dem Chaos verbündet sich mit unserer, von den Massenmedien genährten, Katastrophenfantasie zu einer höchst wirkungsvollen Mischung, die auch noch die allzu einfachen Doubletten des neuen Romans mit viel Spannung auflädt. In den USA wurde sein Debüt gefeiert, die Filmrechte sind bereits verkauft.

Für einen Schriftsteller, sagt man, stellt der zweite Roman die eigentliche Hürde dar. Das ist auch bei Neville nicht anders, am deutlichsten merkt man die Verlegenheit des Autors an den weiblichen Figuren, die nur affektstrategische Funktion erfüllen, meist sentimental in Szene gesetzt werden und so lediglich dem Kontrast zur Action dienen. Auch das Belfast-Schema erweist sich im zweiten Roman als abgenutzt, weil der Autor keine neue Geschichte darin installieren konnte oder wollte. Das aber wird er in Zukunft wohl müssen, nachdem er fast alle Figuren hat liquidieren lassen.

Blutige Fehde Stuart Neville (Armin Gontermann, Übers.) Rütten & Loening 2012, 400 S., 16,99 €

Die Schatten von Belfast Stuart Neville (Armin Gontermann, Übers.) Aufbau 2012, 448 S., 9,99 €

Gert Ueding ist emeritierter Professor für Rhetorik und Krimifan

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