Die Vereinten Nationen definieren Piraterie seit jeher als Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie Folter oder Sklaverei - so lässt sich das ihren Resolution seit Jahrzehnten entnehmen. Raubüberfälle auf Handels- und Passagierschiffe sind alles andere als ein Relikt ferner Zeit, sie erschüttern die Seefahrt seit Jahren und werden inzwischen als Bedrohung der internationalen Sicherheit empfunden.
Nun häufen sich auch in Deutschland Stimmen, die wegen der ausufernden Freibeuterei im Indischen Ozean oder im Südchinesischen Meer, nicht zuletzt in der Straße von Malacca, ein Eingreifen von Marine-Verbänden von NATO und EU gutheißen. Ob das auf Dauer und wirklich hilft, wird man sehen.
Immer schon lebte die Piraterie auf See von den Handelsrouten, die seit jeher als Lebensadern der Weltökonomie galten, in welchem geschichtlichen Stadium die sich auch immer befand. Man denke an die Vitalienbrüder Klaus Störtebekers um 1400 auf der Ostsee, an Malteser Ritter und die Barbaresken des Maghreb oder die schlagkräftigen Korsaren der europäischen Neuzeit.
Entermesser und Enterhaken
Ihren historischen Ursprung hat die Piraterie in der Karibik, begünstigt durch eine verwinkelte Geografie, kleine Archipele und Inselketten, die sich als Fluchtpunkt und Refugium anbieten. Die Freibeuter des 15. und 16. Jahrhunderts finden in den halbwilden Fleischjägern der Bukanier und Flibustiers allfällige Verbündete. Die den spanischen Kolonien in Mittel- und Südamerika abgepressten Gold-, Silber- und Perlenschätze müssen unterwegs nach Europa durch das karibische Nadelöhr.
Als die monopolisierte Kontrolle der Seewege durch die Spanier zusehends verfällt, als mit Holland, England und Frankreich neue Kolonialmächte in den Vordergrund drängen, als schließlich mit dem Sklavenhandel und einem expandierenden Warentransfer neue Quellen des Reichtums sprudeln, blüht die Piraterie erst richtig auf. Die Lage erscheint unübersichtlicher denn je, auch wegen ständig wechselnder Kriegsfronten zwischen den europäischen Ländern - das Goldene Zeitalter der Freibeuterei beginnt um 1650 und endet ein Jahrhundert später.
Die Piratenschiffe sind schnell, wendig, manövrierfähig und oft nach den höchsten Standards ihrer Zeit mit schweren Schiffsgeschützen ausgerüstet - das Entermesser oder der Enterhaken gilt als ultimative Waffe. Im Entern nach vorherigem Beschuss besteht das Finale der Jagd auf ein Handelsschiff. Pech haben die siegestrunkenen Abenteurer nur, wenn doch Seesoldaten auf dem feindlichen Schoner sind, aber selbst dann muss das nicht Eroberung und Beute kosten, wie Sir Francis Drake beweist, als er mit seinen Kohorten das spanische Flaggschiff Cacafuegos ("Feuerspeier") vor der Pazifik-Küste Südamerikas erobert. Häufig fahren die Meeresjäger unter falscher Flagge und lassen erst im allerletzten Moment das Piratenbanner mit dem Totenkopf und den gekreuzten blutroten Messern am Mast emporsteigen. Doch gibt es als Freibeuter-Emblem auch phantasievolle Kreationen wie einen Frauenleib oder einen Galgen, unter dem ein Sack voll erbeuteter Schätze baumelt.
Es kommt im 17. Jahrhundert unter Kapitän James Morgan sogar zu großangelegten Landoperationen gegen kleine und große Städte des spanischen Kolonialreiches. Allein Panama, wo die auf kolonialen Latifundien geschürften Edelmetalle anlanden, um auf dem Landweg auf die karibische Seite gebracht zu werden, wird im 17. Jahrhundert zweimal gebrandschatzt. Die Kolonialarmee ist in beiden Fällen überfordert, zunächst rauben die aufmarschierenden Freibeuter alles, was kostbar scheint, sodann zwingen sie die Reichen mittels Folter, das Versteck ihres Vermögens preiszugeben. Bei derartigen Expeditionen gehören Vergewaltigungen sehr wohl dazu, im Gegensatz zu Beutezügen auf See, bei denen sich Piraten - so jedenfalls besagt es die Überlieferung - nie an erbeuteten Frauen vergreifen, weil die als Geisel betrachtet und unbeschadet gegen ein Lösegeld eingetauscht werden.
Manche Edelkorsaren wie Sir Walter Raleigh oder der erwähnte Francis Drake dürfen sich bei ihren Unternehmungen durch Kaperbriefe mit königlichem Siegel legitimiert fühlen. Andere wie James Morgan - er wird im Dienst der englischen Krone Gouverneur von Jamaika - wechseln rechtzeitig die Seiten, verzehren in Ruhe die gewaltsam erworbenen Reichtümer und veranstalten nicht selten Treibjagden auf ehemalige Spießgesellen.
Wir lagen vor Madagaskar
Nach dem Spanischen Erbfolgekrieg von 1701 bis 1721 werden die Karten unter den Seemächten neu gemischt, die Trümpfe der Piraten stechen seltener. Im Zeichen des aufkommenden Merkantilismus, der den Nationalreichtum zu mehren trachtet, und einer sklavengetriebenen Plantagenwirtschaft in der Neuen Welt Nordamerikas wollen Engländer und Franzosen auf ihren Handelsrouten keine Verluste mehr dulden. Mit der industriellen Revolution im Europa des 19. Jahrhunderts haben die verwegenen Sturmvögel des Frühkapitalismus endgültig ausgedient. Spätestens nach 1870 sind die meisten Seewege gesäubert, ist der letzte Desperado dem Scharfrichter übergeben oder jahrzehntelanger, tödlicher Arbeitsfron in einer Strafkolonie unterworfen.
Was fortlebt, das sind der verklärende Mythos und das romantisierende Narrativ, auf dass Abziehbilder der Piraterie kursieren, die mit historischer Wahrheit nicht viel zu tun haben. Gern spiegelt sich eine Gesellschaft in ihrer Vorgeschichte, kokettiert mit Extremen und Ausschweifungen. Bis heute singen Passagiere und Mannschaften auf Kreuzfahrtschiffen zum Abschied: "Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord ..." und ersehnen das Abenteuer
Frei nach Hans Magnus Enzensberger bilden Piraterie und Mafia ein Subsystem des Kapitalismus, das dessen Gewinnsucht teilt und oft übertrifft. Damit sind heute nicht nur die eingangs erwähnten Überfälle auf den Schiffsverkehr, sondern ebenso die Produkt-, Internet- oder Wissenschaftspiraterie gemeint. Es lockt das fast mühelos erworbene Geld. Zur Hochzeit der karibischen Freibeuter schrieb der Komponist Johann Krieger (1652-1725): "Die Losung, die ist Geld, Geld, Geld ..." Doch irgendwann hört der Spaß auf, und die großen Handelsnationen des 21. Jahrhunderts wollen für Ordnung ihrer globalen Betriebszelle sorgen - ob nun am Horn von Afrika, in der Straße von Malacca oder in anderen von "Terroristen" und Piraten "verseuchten Gewässern".
Die Operation Enduring Freedom glaubt sich auch für diese Mission zuständig, aber sie ist es nicht allein.
Gerhard Armanski ist Buchautor sowie Sozial- und Kulturhistoriker.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.