Europa kommt zur Hilfe

Lohnpolitik Konservative Politiker und Ökonomen kommen den Gewerkschaften zu Hilfe: Sie fordern eine Stärkung der Kaufkraft. Doch die Instrumente für mehr Lohn sind stumpf geworden

So viel Unterstützung vor einer Lohnrunde haben die Gewerkschaften schon lange nicht mehr erhalten. Diesmal kommt Zuspruch sogar von Mainstream-Ökonomen und konservativen Politikern vor allem aus dem Ausland. Allen voran fordert Frau Lagarde, die französische Finanzministerin, eine Stärkung der Kaufkraft in Deutschland. Auch die Bundesarbeitsministerin wünscht, dass die Arbeitnehmer vom Aufschwung profitieren sollen. Solche ungewöhnlichen Koalitionen deuten auf eine zugespitzte Problemlage hin, die sich mit einer Politik in gewohnten Gleisen offensichtlich nicht mehr auflösen lässt. Was ist passiert? Seit Mitte der 1990er Jahre steigen die Löhne in Deutschland deutlich langsamer als in anderen europäischen Ländern. Die Verbesserung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie in Verbindung mit hoher Innovationsdynamik hat die deutschen Exporte explodieren lassen. Die Kehrseite war eine lang anhaltende Stagnation der Binnennachfrage, so dass die Importe nicht im gleichen Maße mitwachsen konnten.

Vernachlässigte Binnenkonjunktur

Die Deutschen haben diese Vernachlässigung des Binnenwachstums teuer bezahlen müssen. In den letzten zehn Jahren lag das deutsche Wachstum deutlich unter dem europäischen Durchschnitt. Die untere Hälfte der Einkommensbezieher hat in dieser Zeit noch die kräftigen Zuwächse in den höheren und höchsten Einkommensgruppen mitfinanziert. Das mussten sie mit einem Rückgang der Reallöhne und im untersten Einkommensviertel sogar mit einem Rückgang der Nominallöhne bezahlen. Diese Einbußen ausgerechnet bei den Einkommensgruppen mit der höchsten Konsumneigung bremsten die ohnehin schwache Binnennachfrage noch weiter ab. Die Exportüberschüsse in Deutschland wuchsen ebenso schnell wie die Handelsbilanzdefizite in anderen Ländern. Vor Einführung des Euro kam es bei solchen Konstellationen zu einer Aufwertung der D-Mark und Abwertungen der schwachen Währungen. Da bei einer gemeinsamen Währung Abwertungen nicht mehr möglich sind, werden die Löhne zum entscheidenden Anpassungsmechanismus. Sicher haben manche südeuropäischen Länder lange über ihre Verhältnisse gelebt. Sind aber Lohnsenkungen von 20% und mehr in den Defizitländern sinnvoll und ohne Gefährdung des sozialen Gleichgewichts und der gemeinsamen Währung überhaupt durchsetzbar?
Europäischer Wettbewerb der Lohnsenkungen

Als stärkste Wirtschaftsmacht in Europa gibt Deutschland in der Euro-Zone den Takt in der Lohnpolitik an. Mit seiner Politik der Lohnzurückhaltung zwingt es andere Länder in einen Lohnsenkungswettbewerb, von dem niemand etwas hat. Die Wachstumsraten werden überall sinken und eine lang anhaltende Stagnation ist zu befürchten. Exportüberschüssen stehen immer Importüberschüsse in anderen Ländern gegenüber. Die Überschüsse und Defizite in der Welt addieren sich auf Null. Man kann daher die Gefahr eines erneuten Abschwunges nicht bannen, indem alle Länder dem deutschen Vorbild folgen. Die deutschen Ökonomen, die das vorschlagen, sollten eigentlich wissen, dass sich die Gesetze der Mathematik nicht außer Kraft setzen lassen.

Deutschland hat mit seinen Exportüberschüssen und der Vernachlässigung seiner Binnennachfrage zu den Ungleichgewichten in Europa beigetragen. Es steht daher auch jetzt in der Pflicht, seinen Beitrag zur Wiedergewinnung der ökonomischen Stabilität zu leisten. Stabiles wirtschaftliches Wachstum in Deutschland und in Europa erfordert eine Verringerung der Ungleichgewichte im Außenhandel. Der deutsche Beitrag sollte natürlich nicht in einer Verringerung der Exporte liegen, was Arbeitsplätze kosten würde. Allerdings muss Deutschland mehr für seine Binnennachfrage tun. Mehr Kaufkraft für die Beschäftigten ist nicht nur gut für den sozialen Zusammenhalt. Damit werden auch die Importe angekurbelt und die anderen Euro-Länder bei ihren Konsolidierungsbemühungen entlastet. Dazu brauchen wir kräftige Lohnsteigerungen in den nächsten Jahren, die den Verteilungsspielraum aus Zunahme der Produktivität und den nach den Stabilitätszielen der Europäischen Zentralbank zulässigen Preissteigerungen wieder ausschöpfen. Dieses Jahr wäre ein Anstieg der Löhne um 3% sinnvoll.

Paradigmenwechsel

Ein Politikwechsel von der Lohnzurückhaltung zu einer langfristigen, wieder am Verteilungsspielraum orientierten Lohnpolitik erweist sich aber als außerordentlich schwierig. Zunächst muss sich die einseitig auf Exportzuwächse orientierte Sichtweise und Ablehnung jeder Verantwortung für eine koordinierte europäische Wirtschaftspolitik ändern. Wenn die stärkste Volkswirtschaft in Europa sich nicht um die Folgen ihrer Wirtschaftspolitik für andere Länder schert, sind der Euro und das gemeinsame europäische Projekt gefährdet. Dann stellt sich die Frage: Haben wir überhaupt noch wirkungsvolle Instrumente, um die Löhne im Gleichschritt mit der wirtschaftlichen Entwicklung anzuheben? Die klassischen Instrumente sind stumpf geworden. Noch bis Anfang der 1990er Jahre konnten die Sozialpartner in autonomen Verhandlungen den Verteilungsspielraum ausschöpfen, um für den von Erhard geforderten „Wohlstand für alle“ zu sorgen. Die starken Industriegewerkschaften gingen voran und die Gewerkschaften in den schwächer organisierten Branchen übernahmen deren Abschlüsse.

Heute funktioniert dieses Geleitzugprinzip nicht mehr. In einigen Branchen, wie der Stahl-, Elektro-, Metall- und Chemieindustrie oder in der Energiewirtschaft, sind die Gewerkschaften noch stark genug, ordentliche Lohnabschlüsse durchzusetzen. Allerdings gelingt die Übertragung der Pilotabschlüsse auf andere Branchen und viele Kleinbetriebe nicht mehr, da die weißen Zonen im Arbeitsmarkt ohne Gewerkschaften, Tarifverträge und Betriebsräte immer größer geworden sind. Mit der Deregulierung der Leiharbeit, der Ausdehnung der schlecht bezahlten Minijobs und der Zulassung von Werkvertragsnehmern aus dem Ausland ohne wirkungsvolle Lohnuntergrenzen hat die Politik überdies den Gewerkschaften in einigen Segmenten des Arbeitsmarktes den Teppich unter den Füßen weggezogen und den Sog der Löhne nach unten angefeuert.

Neue Instrumente der Lohnpolitik und staatliche Unterstützung sind gefordert

Eine Wende in der Lohnpolitik kann ohne staatliche Unterstützung und neue Instrumente der Lohnpolitik nicht gelingen. Moralischer Beistand durch die Bundesarbeitsministerin in dieser Lohnrunde ist hilfreich, reicht aber bei Weitem nicht. Die Hälfte der Hausaufgaben für eine lohnpolitische Wende ist in ihrem Bereich abzuarbeiten. Das deutsche Tarifsystem braucht mindestens drei neue Gehhilfen, um wieder auf die Beine zu kommen: Zuerst geht es um die Einführung eines allgemeinen Mindestlohns. Ein Mindestlohn von 7,50Euro würde – das hat unser Institut mit Zahlen von 2004 berechnet – die Lohnsumme um 12 Mrd. Euro und die Einnahmen der Sozialversicherungen um 4,9 Mrd. Euro verbessern.

Das entspricht einem umfangreichen Konjunkturprogramm mit dem großen Vorteil: Es ist nicht zeitlich befristet. Zum Zweiten muss die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen vereinfacht werden. Wenn sich die Tarifpartner einig sind, sollten die Vertreter aus der Branche und nicht die aus den Dachverbänden den Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit an das Arbeitsministerium stellen können. Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände könnte dann nicht mehr die Allgemeinverbindlichkeit von Branchentarifen blockieren. Zum Dritten dürfen Leiharbeit und Minijobs kein Einfalltor für Niedriglöhne mehr sein, das in den Betrieben das Lohnniveau herunterzieht. Leiharbeitnehmer müssten in ihren Einsatzbetrieben den gleichen Lohn wie die Stammarbeiter bekommen. Die Minijobs, die zu über 90% Niedriglohntätigkeiten sind, müssten neu geregelt werden. Zu denken ist hier an eine Bagatellgrenze von 200 Euro pro Monat für sozialversicherungsfreie Tätigkeiten.

Zu hoffen ist, dass diese Gehhilfen die Sozialpartnerschaft in den Branchen ohne oder nur mit schwachen Tarifverträgen wiederbelebt. Denn die Lohnfindung sollte Sache der Sozialpartner bleiben. Der Staat sollte nur da eingreifen, wo sie nicht funktioniert.

Dieser Beitrag ist erstmals in der September-Ausgabe des Wirtschaftsdienst, der Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, und online auf oekonomenstimme.orgerschienen.

Gerhard Bosch ist Professor für Wirtschafts- und Arbeitssoziologie an der Universität Duisburg-Essen

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