Sich ins andere Geschlecht zu verwandeln, ist ein uralter Traum. Als in der griechischen Mythologie Teiresias – ein Priester des Zeus – auf ein Paar sich begattender Schlangen stieß und die weibliche tötete, wurde er zu einer Frau. Nach sieben Jahren traf Teiresias wiederum auf ein Paar kopulierender Schlangen, er tötete die männliche und wurde wieder zum Mann. Auf der Basis seiner Erfahrungen sollte er dann die Frage beantworten, ob die Frau oder der Mann in der geschlechtlichen Liebe mehr Lust empfinde.
Sind von einem kürzlich abgeschlossenen Selbstversuch in Deutschland ähnlich grundstürzende Antworten zu erwarten? Der ehemalige Manager Christian Seidel hat sich im Rahmen eines fast zweijährigen, zeitweise von einem Filmteam begleiteten Selbsterfahrungsexperiments dauerhaft als Frau gekleidet und seine Alltagserfahrungen in einem Buch mit dem Titel Die Frau in mir niedergeschrieben. (Den dazugehörigen Dokumentarfilm zeigt Arte am 31. Januar um 22.35 Uhr.)
Das ist ein Verstoß gegen das mosaische Verdikt, nach dem eine Frau nicht Mannsgewand und ein Mann nicht Frauenkleider tragen solle – denn wer solches tut, ist dem biblischen Gott ein Gräuel. Christian hingegen wurde zu Christiane, legte die drögen Anzüge ab und beschreibt, wie er die fantasievollen weiblichen Kleider genießt.
Raus aus dem „Rollenknast“
Mit Anfang Fünfzig bricht er aus dem „Rollenknast“ aus, wie Seidel es nennt. Sein früheres Leben, dieses „mentale Hosenzuknöpfen und Reißverschlusshochziehen“ begann er zu hassen. Er legte seine Macho-Rolle als Manager ab – es sollte ein radikaler Bruch mit seiner Vergangenheit werden. Weil Männer ihre „innere Weiblichkeit“ nicht zeigen, geschweige denn leben dürfen, schreibt Seidel, müssen sie sie verdrängen, verleugnen und ausgrenzen. Erst durch diese Abspaltung werde der Mann zum Mann.
Seidel ging es darum, seine innere Weiblichkeit endlich auszuleben. Dabei kann er auch abseits mythologischer Figuren auf eine Vorgeschichte zurückgreifen: Die Anima, das Weibliche im Manne zu entdecken, ermunterte schon der Tiefenpsychologe C.G. Jung seine Geschlechtsgenossen.
Welche Weiblichkeit hat Christian Seidel aber nun entdeckt? Als Christiane öffnete sich die ihm als Mann bisher verschlossene und tabuisierte Welt des Femininen. Farbenfreudige Kleider aus feinen Stoffen, Schmuck und sinnliche Parfüms – das war Neuland für Christiane und vermittelten ihr einen neuen Bezug zur Welt. Es gebe viel „Stützung der Ansicht“, schrieb Virginia Woolf in ihrem prototypischen Roman Orlando, „dass Kleider uns tragen, und nicht wir sie; wir mögen sie zwingen, die Form unserer Arme und unserer Brust anzunehmen, sie aber werden unser Herz, unseren Geist, unsere Zunge nach ihrem Belieben formen.“ In der fiktiven Biografie wechselt ein junger englischer Adliger in seinem überlangen Leben vom Elisabethanischen Zeitalter bis ins 20. Jahrhundert zwar mehrmals die Garderoben und das Geschlecht – doch die Person, so die Quintessenz der Erzählung, bleibt immer dieselbe.
Ist Christian Seidel nun ein moderner Orlando? Als Frau beginnt er sich weicher und runder, verletzlicher und entspannter, freier und sinnlicher zu fühlen. Mit der Kleidung als zweiter Haut bildet er einen neuen, positiv empfundenen Habitus aus und lebt als Christiane in „einem mysteriösen, paradiesischen und vor Lebendigkeit strotzenden Reich“. Die von Frauen erlebte Realität, nämlich Objekt von Männerblicken, Berührungen und teils sogar sexualisierter Gewalt zu sein, erfährt er am eigenen Leib. Das geht ihm unter die Haut.
Einer indianischen Weisheit zufolge muss man in den Mokassins des Anderen laufen, um ihn wirklich zu verstehen. Im Seidel’schen Experiment sind dies High Heels. Zusammen mit Nylonstrümpfen, einem schwarzen Mini-Lederrock, einer blonden Langhaarperücke erweitern sie das Bewusstsein des früheren Chauvis. Mit Make-up rundet Christiane ihr Styling ab.
Dazu muss man wissen, dass Christian Seidel vor knapp zwei Jahrzehnten als ehemaliger TV-Manager in die Image- und Medienarbeit von Supermodels wie Claudia Schiffer involviert war. Das hat Spuren hinterlassen. Als Frau durchs Leben gehen, heißt für die neu geschaffene Christiane daher auch mit einem üppigen Busen zu prunken. „Wenn vorne nichts herumschwingt, ich nichts spüren würde, käme ich mir schnell wieder wie ein Mann vor.“ Mit Körbchengröße 85 Doppel-D und 1,87 Meter Körperlänge auf den geliebten High Heels lässt sich leicht auf die meisten anderen Frauen runterschauen. Es ist schwer vorstellbar, dass damit ein Passing möglich ist, also ein unauffälliges Leben einer Frau von Anfang 50. Lakonisch diagnostiziert ein Arzt, dass Seidel mit seiner Aufmachung etwas an der Realität vorbeisurft.
Geschlechterinszenierungen à la Charleys Tante wirken gerade bei Männern oft banal und komisch. Tragisch wird es, wenn der Ernst der Darstellung an der Wirklichkeit des Körpers scheitert. Der banalen, oft unfreiwillig komischen Eindeutigkeit entgehen Darstellungen von oszillierenden Geschlechtern. Die Natürlichkeit von Mann und Frau zu dekonstruieren, ist ja keineswegs eine Erfindung der letzten Jahrzehnte. In Shakespeares Wie es euch gefällt spielten elisabethanische Boy Actors die Rosalinde, die sich als Mann verkleidet. „Die ganze Welt ist Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler.“
Genderidentitäten bekommen so einen doppelten Boden und werden verdreht. Die Eindimensionalität demontieren Crossdresser mit Schnurrbart und Make-up, Drag Kings mit Dildo im Schritt. Sogar in der Welt der Top-Models hat das Einzug gehalten, wenn das australische Model Andrej Pejić mit seiner schillernden Androgynität sowohl Herren- als auch Damen-Mode präsentiert.
Alles hübsch geordnet
Von solch einer ironischen Brechung der Geschlechteridentität und oder gar einem Spiel mit sexuellen Orientierungen ist in Seidels Experiment nichts zu spüren. Christianes Ehefrau lehnt es entschieden ab, mit ihrem Mann in Frauenkleidung eine sexuelle Beziehung zu führen, sie sei ja schließlich nicht lesbisch. Sexuelle Lust auf Männer bleibt umgekehrt auch für Christian/e tabu. Während in Rollentausch-Filmen wie Viktor/Viktoria oder Manche mögen’s heiß das Uneindeutige erotisch aufgeladen ist, bleibt bei Christian/e Seidel und seiner Ehefrau Maria alles hübsch geordnet und streng heteronormativ.
Christianes Praxistest findet ausschließlich beim Shopping statt, in Bars und auf Partys oder in einem Kurs, in dem sie lernt, auf Stöckelschuhen zu balancieren. Einem Beruf nachzugehen, ist nicht Teil dieses Experiments, sei es als Managerin oder Kassiererin. Mit ihrem erotischen Outfit wäre sie sicher unsanft auf eine Wirklichkeit jenseits ihres exzessiven Konsumalltags geprallt. Die Gratwanderung, sich weiblich zu geben und gleichzeitig kompetent – der Dress for success –, erspart sich Christiane. Das Experiment bleibt in den Grenzen der Freizeitgestaltung.
Was Seidel früher für die Medien produziert hat, die Inszenierung des Femininen, hat er nun psychisch ausgelotet. Die Erkundung der „inneren Weiblichkeit“ und das Ausleben der Projektionen des Mannes stehen im Zentrum des Selbstversuchs. Doch die männlichen Imaginationen verstecken sich keinesfalls nur in den Köpfen von Männern. Im Hollywoodfilm Working Girl von 1988 meint Jack Trainer (Harrison Ford) zu Tess McGill (Melanie Griffith): „Sie sind die erste Frau, die ich auf so einer blöden Party sehe, die sich auch wie eine Frau anzieht und nicht wie eine, die denkt, was ein Mann anziehen würde, wenn er eine Frau wäre.“
Der Journalist Nils Pickert berichtete einmal, wie er als Vater im Rock durch die Einkaufsmeile von Rottweil zog, zusammen mit seinem Sohn, der selbst Spaß daran gefunden hatte, Röcke zu tragen. Eine solche Erfahrung ist kaum zu überschätzen. Solche Aktionen pfeifen auf das binäre System der Geschlechter, entwickeln ein anderes Verhältnis zur genderspezifisch kodierten Kleidung und geben dies auch an die nächste Generation weiter.
Um aber noch einmal auf den mythologischen Tereisias zurückzukommen: Als dieser offenbarte, als Frau neun Mal so viel Lust empfunden zu haben als als Mann, wurde er mit Blindheit geschlagen. Seine Gabe als Seher behielt er indes. An prophetischen Fähigkeiten mangelt es den Versuchs-Crossdressern hierzulande noch.
Die Frau in mir. Ein Mann wagt ein Experiment. Christian Seidel Heyne Verlag München 2014, 288 S., 12,99 €
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