Vor Gott sind alle ungleich

Urteil In der Debatte um das Beschneidungsverbot aus religiösen Gründen geht es im Kern um die Frage, welche Integration wir brauchen
Zwei türkische Jungen in traditioneller Beschneidungskleidung
Zwei türkische Jungen in traditioneller Beschneidungskleidung

Andrea Kuenzig/ laif

In der Bibel heißt es: „Das ist mein Bund zwischen mir und euch samt deinen Nachkommen, den ihr halten sollt: Alles, was männlich ist unter euch, muss beschnitten werden.“ Es ist nur ein kleiner Schnitt, doch auf ihm gründet unsere Kultur und unsere Geschlechterordnung, das Privileg des ersten Geschlechts, im Bund zwischen dem ohnmächtigen Knäblein und dem übermächtigen Gottvater. Die Beschneidung ist der Schnitt, der Mann und Frau trennt, das Fundament für das System der zwei Geschlechter.

Er ist eine heilige Handlung, die gleichzeitig die Männlichkeit feiert und den Mann privilegiert. Beschneidungsfeiern wie die jüdische Brit Mila sind deshalb große Feste; bei Muslimen werden die Knaben sogar als Prinzen ausstaffiert. Auch im Christentum des Mittelalters galt die heilige Vorhaut des Jesus von Nazareth als verehrungswürdige Reliquie. Frauen haben dagegen kein entsprechend heiliges Körperteil zu bieten. Gewaltsam um seine Vorhaut gebracht, wird der Penis des kleinen Mannes zum Phallus erhöht. Und weil es sich um so tiefverwurzelte Traditionen handelt, ist die Aufregung über das Verbot durch das Kölner Landgericht nun auch so groß.

Juristisches Neuland

Ein vierjähriger Junge wurde auf Wunsch seiner muslimischen Eltern von einem Arzt fachlich einwandfrei beschnitten. Zwei Tage später kam es jedoch zu Nachblutungen, die in der Kindernotaufnahme der Universitätsklinik Köln behandelt wurden. Die Staatsanwaltschaft erhob daraufhin Anklage wegen Körperverletzung. Sie stellte dem elterlichen Grundrecht auf freie Religionsausübung und Erziehungsgewalt das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung gegenüber. Der Arzt wurde aber zunächst freigesprochen. Das Landgericht Köln hob in zweiter Instanz das Urteil auf. Der Schutz vor Gewalt spreche gegen die Angemessenheit des Eingriffs. Da sich der Arzt in einem Verbotsirrtum befunden hat, stufte das Gericht die Behandlung zwar als rechtswidrig ein, sprach ihn jedoch frei

Es ist das erste Mal, dass sich ein deutsches Gericht mit dieser Frage beschäftigt und rechtskräftig entschieden hat, dass weder Elternrecht noch Religionsfreiheit einen solchen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit rechtfertigen. Medizinisch nicht notwendige, also auch religiös motivierte Beschneidungen, gelten nach diesem Urteil als strafbare Körperverletzung.

Als das Jüdische Krankenhaus in Berlin und andere Kliniken daraufhin derartige Operationen einstellten, brach ein Sturm der Entrüstung los. „Wer die Beschneidung angreift, greift das Judentum in seinem Kern an“, empörte sich die Allgemeine Rabbinerkonferenz. Es handele sich um einen normalerweise ungefährlichen kleinen Schnitt, betonen die Verfechter. Diesen jüdischen und muslimischen Ritus zu untersagen, bedeute, eine Jahrtausende alte Tradition zu verbieten. Der integrationspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Serkan Tören, setzt sich deshalb für ein Gesetz ein, das die „weltweit etablierte Praxis der Beschneidung“ in Deutschland legalisiert. „Sollte die aus religiösen Gründen vorgenommene Beschneidung in Deutschland verboten sein“, hält er dagegen, „kann sich das Land jede weitere Integrationspolitik sparen.“

Bagatellisierung der Beschneidung

In der Abwägung zweier hoher Rechtsgüter – dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und dem Grundrecht auf Freiheit des Glaubens – neigt sich die Waagschale in der veröffentlichten Meinung hin zum Schutz der Religionen und der damit verbundenen Riten. Auch der Jurist Volker Beck, Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen, macht sich Gedanken darüber, „ob wir die Religionsfreiheit der jüdischen und muslimischen Glaubensgemeinschaft nicht besser schützen müssen“.

Solche Überlegungen lassen sich nicht von der Hand weisen, wenn man berücksichtigt, dass Beschneidungen, aber auch andere religiöse Traditionen wie das Schächten von Tieren, seit Jahrhunderten benutzt werden, um Ressentiments zu schüren. Andererseits ist auffällig, dass nun die operativen Eingriffe an kleinen Kindern bagatellisiert werden. War nicht der Schutz der Kinder vor Gewalt in der Familie und in pädagogischen und kirchlichen Institutionen ein Thema, das die Öffentlichkeit noch vor Kurzem umtrieb? War es nicht ein Fortschritt, gegen eherne patriarchale Rechte die Vergewaltigung in der Ehe und häusliche Gewalt zu sanktionieren und das Recht auf gewaltfreie Erziehung im Bürgerlichen Gesetzbuch zu verankern?

Selbstverständlich ist die Entfernung der männlichen Vorhaut des kleinen Jungen mit der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen, die deren Gesundheit und Sexualität ein Leben lang gravierend schädigt, überhaupt nicht zu vergleichen. Im Gegenteil, es werden hygienische Argmente ins Feld geführt, um die Beschneidung zu rechtfertigen. In den USA etwa sind sehr viele Männer aus Gründen der medizinischen Vorsorge beschnitten. Aber da von einem möglichen Nutzen dieses Eingriffs – etwa bei AIDS-Prävention oder Sexualempfinden – nur erwachsene Männer profitieren, scheint es unethisch, schon Kleinkindern eine solche Operation aufzubürden. Bürgerrechtler wie die Intactivists in Kalifornien liefen deshalb Sturm dagegen, dass früher fast jedes männliche Baby beschnitten wurde. Sie setzten immerhin durch, dass dies nicht mehr als Routineeingriff gemacht wird. Säkulare Beschneidungen spielen in Deutschland dagegen keine große Rolle. Aber auch sie sind nach dem Kölner Urteil nicht mehr rechtmäßig.

Die Diskussion über Nutzen und Schaden wird schon jahrzehntelang geführt – mit Argumenten der medizinischen Zunft. Was jetzt jedoch zur Disposition steht, ist dagegen eine altehrwürdige Tradition. „Wenn ein Gottesgebot nicht mehr als Hokuspokus ist“, ereifert sich der Schriftsteller Navid Kermani in der SZ, „und jedweder Ritus sich an dem Anspruch des aktuell herrschenden Common Sense messen lassen muss, wird die Anmaßung eines deutschen Landgerichts erklärbar, mal so eben im Handstreich viertausend Jahre Religionsgeschichte für obsolet zu erklären.“

Alte Streitigkeiten

Die Beschneidung ist nicht nur ein traditioneller Ritus, sie bildet das Fundament patriarchaler Religionen und lässt sich durch einen Richterspruch nur schwer bekämpfen. „Wenn das überwunden werden soll“, meint der Philosoph Christoph Türcke, „muss dies aus der Religionsgemeinschaft selbst kommen und kann nicht von außen vorgeschrieben werden.“ Ein Freibrief, das Recht auf körperliche Unversehrtheit einzuschränken, ist dies indessen nicht.

Handelt es sich also um die Fortsetzung des Kopftuchstreits, aber auf einem weitaus größeren Terrain? Nicht mehr nur Muslime, sondern Juden sind an einer überaus sensiblen Stelle getroffen. Das Christentum gesellt sich als große Allianz der Buchreligionen hinzu, die verständlicherweise – gerade in Deutschland – fremdenfeindliche und antisemitische Intoleranz unter die Lupe nimmt.

Nicht mehr nur ein paar Quadratzentimeter Textil, sondern der Körper aus Fleisch und Blut steht im Fokus. Er wechselt vom Kopf, dem Sitz der Ratio, unter die Gürtellinie, dort wo die Triebe herrschen. Nicht mehr bloß das deuxième sexe (Simone de Beauvoir), sondern das erste Geschlecht wird an der zentralen und empfindlichsten Stelle getroffen. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, dass der Kopftuchstreit nur ein Vorspiel zu der Debatte war, die uns jetzt bevorsteht.

Gerhard Hafner ist Psychologe und hat im Freitag zuletzt über Männer im Gender Trouble geschrieben

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