253 Elizabeth Street

Martin Scorsese Hier ist Herkunft Welt und Dorf zugleich: Das Berliner Filmmuseum nähert sich dem Regisseur Martin Scorsese auch topografisch

Niemand weiß heute mehr zu sagen, wem die Elizabeth Street im Süden Manhattans ihren Namen verdankt. Fest steht hingegen, dass es sie seit 1755 gibt und sie ihre heutige Länge im 19. Jahrhundert erhielt. Heute verläuft sie parallel zur weit berühmteren Bowery. Auf Anhieb käme man nicht auf die Idee, hier das Herz von Little Italy zu vermuten, zumal die Straße vor 20 Jahren von den Nachbarn aus Chinatown vereinnahmt und danach gründlich gentrifiziert wurde.

Für Eingeweihte gehört die Elizabeth Street jedoch zu den wichtigsten Adressen der Filmgeschichte. Sie ist Teil der Folklore des Autorenkinos geworden, weil sich dort Martin Scorseses Kindheit und Jugend zugetragen haben. Sie ist das spirituelle Zentrum eines der erstaunlichsten Exponate, die in der Ausstellung zu sehen sind, die das Berliner Filmmuseum dem Regisseur aus Anlass seines 70. Geburtstags gewidmet hat: ein großformatiges Modell von Manhattan, auf dem exemplarische Drehorte mit Stecknadeln markiert sind, von denen Fäden zu kleinen Monitoren gezogen wurden.

Scorseses Neugierde auf die Stadt entfaltet sich in konzentrischen Kreisen um diesen Nukleus herum. Seine Großeltern zogen 1910 aus Sizilien dorthin. Als Martin acht Jahre alt war, zog die Familie zunächst in deren Wohnung in der Hausnummer 241, bis zu seinem 23. Lebensjahr lebte er dann gegenüber in der Nummer 253.

Scorsese hat oft behauptet, die West Side Manhattans habe er zum ersten Mal betreten, als er sich mit 18 als Filmstudent in Greenwich Village einschrieb. Das muss man nicht für bare Münze nehmen. Beim Wort nehmen darf man ihn gleichwohl. Die Welt, in der er aufwuchs, umfasste nur wenige Blocks. Aber dieser Erfahrungsradius der unmittelbaren Reichweite war groß genug für ein fantasiebegabtes Kind, um von ihm auf die Welt da draußen zu extrapolieren.

Es ist so triftig wie bewegend, wenn die Ausstellung dem Betrachter zunächst einen biografischen Zugang zu Scorseses Werk anbietet. Scorsese ist ein Regisseur, der seine Herkunft gemeistert hat; nicht zuletzt, da er sich in seinen Filmen beharrlich Rechenschaft ablegte über seine Wurzeln. Liebevoll versenkt die Schau ihren Blick in das Milieu und die Familiengeschichte des asthmakranken Jungen. In deren Strukturen, im Widerstreit von Katholizismus und dem Gesetz der Straße, scheint bereits der Konfliktstoff seiner frühen Filme aufgehoben.

Die Fotos, die der angehende Filmemacher dort Anfang der sechziger Jahre machte, zeigen unzweifelhaft eine amerikanische Metropole (allein die parkenden Straßenkreuzer), aber man meint, auf dem Asphalt sei die alte Heimat noch zu riechen. Von den Nachbarn hieß es, sie gehörten einer anderen Nationalität an, was bedeutete, dass sie aus einem anderen Dorf stammten. Scorseses Berufung zum Filmemacher gehorcht einem Grundimpuls des US-Kinos: der ethnischen Zugehörigkeit. So wie in Hexenkessel (1973) und Italianamerican (1974) hatte man die Welt der italienischen Einwanderer noch nicht gesehen.

Das Kino war für Scorsese ein Instrument der Weltteilhabe und zugleich ein Medium der Heimatverbundenheit. Auf einem kleinen Schwarzweißfernseher, dessen Bildschirm kaum größer als eine Postkarte war, entdeckte er die Meisterwerke des Neorealismus. Schon mit elf Jahren zeichnete er mit Buntstiften sein erstes Storyboard: für einen Sandalenfilm namens The Eternal City, den er stolz als eine „Marsco“-Produktion ankündigte, mit einem eigenen Farbverfahren (Marsco Color), bereits in CinemaScope, das gerade erst seinen Siegeszug begonnen hatte.

Sammler und Bewahrer

Die Kuratoren Kristina Jaspers und Nils Warneke haben die Ausstellung als Inventar von Scorseses immer weiter ausgreifendem, filmischem Universum angelegt. Der Parcours ist thematisch gegliedert und arbeitet die vielgestaltige Ikonografie von Scorseses Werk heraus. In den ersten Räumen wird das Personal der Filme in den Blick genommen – die Familien, die ungleichen Brüderpaare, die zerrissenen, einsamen Helden, das mulmige Verhältnis zwischen Männern und Frauen –, dann wird die Stadt als topografisch wie metaphorisch konstituierender Ort vorgestellt.

Scorseses Liebe zum Kino, seinem Kampf um die Bewahrung des Filmerbes, ist das nächste Kapitel gewidmet. An ihn schließen sich Einblicke in die Werkstatt des Regisseurs an, in das symbiotische Zusammenspiel von Kameraführung, Montage und Musik. Dabei wissen die Kuratoren Scorsese nicht nur auf ihrer Seite, weil er ihnen großzügig Zutritt gewährte in sein privates und Produktionsarchiv. Dieser besessene Sammler und Bewahrer eignet sich womöglich besser als jeder andere Regisseur, ausgestellt zu werden. Seine Arbeitsweise ist konzeptionell, jeden Aspekt seines Mediums hat er reflektiert; in Storyboards verleiht er seinen Ideen früh visuelle Gestalt. Der Arbeitsprozess erscheint als kreativer Rausch, dessen einzelne Phasen die Schau jeweils für einen Moment stillstellt. Scorseses Filme sind Virtuositätsmaschinen, die angetrieben werden von unerschöpflicher Einfallslust. Der eigenen Brillanz und der seiner Mitarbeiter setzt er mit jedem Film ein Denkmal.

Kein anderer Filmemacher scheint von der Freigebigkeit des Kinos derart überzeugt wie Martin Scorsese. Er hat die Filmgeschichte studiert und schreibt sie weiter: als verlockend drapiertes Auslagenfenster ihrer Reichtümer. Scorseses prunkende Cinéphilie ist Ernte und Saat zugleich, ein dynamisches Wechselspiel aus Tradition und Neuerung. In seinen Filmen formiert sich die Sicht auf das Vertraute neu.

Ähnliches gelingt auch der Ausstellung, aus der der Betrachter wenig Anekdotisches, dafür aber wesentliche Einsichten ins Filmemachen mitnimmt. Insgeheim folgt die Schau in jedem Raum der autobiografischen Spur, die sie eingangs ausgelegt hat. Denn Leben und Kinoleidenschaft stehen für Scorsese im Einklang. Mit seinem großen Vorbild Michael Powell könnte er sagen: „I am cinema.“ Auch Scorsese identifiziert sich mit seinem Medium, begreift sich stolz als dessen Werkzeug. Die Träume des Jungen aus der Elizabeth Street waren keine traurige Realitätsflucht, sondern ein Versprechen auf Souveränität.

Die Ausstellung mit dem aufreizend deutlichen Titel Martin Scorsese ist im Museum für Film und Fernsehen in Berlin bis zum 12. Mai zu sehen Gerhard Midding sprach im Freitag zuletzt mit Marco Bellocchio

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