Es gibt Geschichten, die man sich nicht gern allein erzählen lässt. Man möchte ihr Erfahren teilen; gleichviel, ob sie Freude oder Unbehagen auslöst. Die Erkenntnis, die man im Singular aus ihr zieht, findet keine unmittelbare Resonanz; ihr fehlt das Sicherheitsnetz von Zustimmung oder Widerspruch.
Savas Ceviz erzählt in Kopfplatzen eine solche Geschichte. Sie wäre auch eine Zumutung, wenn man sie im Kinosaal gemeinsam mit anderen erführe. Man würde deren Unruhe, Seufzen, Protest und Anteilnahme körperlich spüren, einmal vielleicht auch ihr Lachen. Sie lägen in der Luft. Der Berliner Verleih Salzgeber bietet den Film statt des ursprünglich geplanten Kinostarts als Video-on-Demand an. Er nennt sein digitales Angebot „Club“, was ein exklusives Gemeinschaftsgefühl evozieren könnte. Aber am Laptop sind Begeisterung und Zweifel zu Autarkie verdammt. Und dann ist es auch noch genau die Position, in der sich die Zuschauer in mulmiger Analogie zum pädosexuellen Protagonisten des Films wiederfinden, der einschlägige Websites besucht und in Foren chattet. Der Abwehrreflex im Kino wäre freier.
Max Riemelt verkörpert den Architekten Markus, der den Anblick von Kinderkörpern so erregend findet, dass er sie im Schwimmbad und anderswo fotografiert. Weder seine Familie noch seine Kollegen ahnen, dass sein Alltag ein einziger Spießrutenlauf ist. Nach jedem Anblick – zu Begegnungen kommt es vorerst nicht – masturbiert er. Als Jessica (Isabell Gerschke) in seinem Mietshaus einzieht, lernt er ihren Sohn Arthur (Oskar Netzel) kennen. Jessica fühlt sich zu dem freundlichen, schüchternen Nachbarn hingezogen, der sich so prächtig mit ihrem Sohn versteht. Markus will sich in Behandlung begeben und findet einen achtsamen Analytiker (Ercan Durmaz), der ihm offen sagt, dass seine Neigung nicht heilbar ist, er aber Verantwortung für sein Handeln tragen kann.
Kopfplatzen erweitert den Kanon der Missbrauchsfilme um die Täterperspektive. Das Drehbuch ist besessen von der Pathologie seines Protagonisten, der sich beim Kickboxen abreagiert und stumme Zwiesprache hält mit einem Wolf, der im Zoo eingesperrt ist. Markus führt einen heroischen Kampf gegen eine Orientierung, für die er nichts kann. Die körperliche Nähe, die Arthur vertrauensvoll bei ihm sucht, nutzt er nicht aus. Seine Hand hält Abstand, wenn sie über dessen Haare, Schultern und Arme streichen will. Ein Kontaktsperrenfilm.
Das Kino ist der Goldstandard
Setzt man den Kinostart nach wie vor als Goldstandard, wurde die Entscheidung des Verleihs aus der Not geboren. Aber dergleichen könnte demnächst zur Normalität werden. Allerorten wird postuliert, dass sich der Streit zwischen Kino und Streaming gerade endgültig entscheidet. Die Bereitschaft ist gering, das Tempo der medialen Erregung zu drosseln und die Gegenwart erst einmal als eine Parenthese zu betrachten.
Im Falle von Kopfplatzen hat nicht mehr und nicht weniger stattgefunden, als dass die strikte Medienchronologie ausgehebelt wurde, die bislang in der Filmförderungsrepublik Deutschland galt: Normalerweise muss ein Film, der Fördergelder erhalten hat, ein Zeitfenster von sechs Monaten einhalten, bevor er auf Heimmedien ausgewertet werden darf.
Savas Ceviz’ Film feierte im Oktober 2019 seine Premiere beim Festival von São Paulound fand danach Beachtung auf den Festivals in Hof und Braunschweig. Man kann nur spekulieren, welche Medienresonanz ein Kinostart gezeitigt hätte. Tatsächlich war sie auch in dieser Vertriebsform nicht gering: Er ist nicht untergegangen in der Wahrnehmung. Aber eine heftige öffentliche Debatte, zu der sein Thema und seine Ästhetik durchaus herausfordern, fand unter den aktuellen Umständen nicht statt. Ihr Radius wäre begrenzt gewesen; Kopfplatzen gehört einer Nische auch im Arthouse-Programm an. Aber sie hätte beispielsweise intensiv geführt werden können in Kinos, in denen Regisseur und Team mit dem Publikum diskutiert hätten. Mit seinem VoD-Start wurde eine bürokratische Hürde überwunden, die der Protektion der Kinobranche dient, gleichzeitig aber vielleicht nicht notwendig eine Herzensangelegenheit der Förderer ist. Diese sind chronisch an Themenfilmen interessiert, deren gesellschaftspolitische und ästhetische Mitteilungen unabhängig vom Format funktionieren sollten. Bei allem Mut und aller Rigidität ist Ceviz’ Film nämlich anzumerken, wie sehr er mit den Geboten jenes psychologischen Sozialrealismus ringt, der nach dem Wirklichkeitsbegriff deutscher Fördergremien und koproduzierender Fernsehredaktionen konstruiert ist. Dieses Kino soll sich verantwortlich und deutlich artikulieren und lieber nicht die Fantasie entwickeln, auf unverzichtbare Szenen auch mal zu verzichten.
Es spricht nicht gegen Kopfplatzen, dass er diese Gebote einhält. Savas Ceviz hat ihnen einen unerbittlichen Film abgetrotzt. Seine Dramaturgie und Bildsprache bestehen auf Unausweichlichkeit. Fensterblicke unterstreichen den unerträglichen Widerspruch zwischen innen und außen. Die Szenen in der Dunkelkammer, im Kino gemeinhin ein Synonym für Entwicklung oder Erkenntnis, bringen den vorerst einzigen Farbakzent in diese chromatisch enge Herbstwelt. Dank seiner unbedingten Konzentration funktioniert Kopfplatzen auch in seinem aktuellen Format: Für anderthalb Stunden macht er uns zu Teilhabern eines Lebens, in dem es keine Aussicht auf Glück geben kann.
Info
Kopfplatzen Savas Ceviz; Deutschland 2020, 97 Min. Bis 30. April exklusiv auf salzgeber.de
Kommentare 2
Ich kann die positive Kritik nicht nachvollziehen. Der Regisseur findet m.E. keinerlei überzeugende Bilder, um die Nöte des Protagonisten verständlich und erzählbar zu machen. Es werden lediglich abgedroschene Klischees aufgeboten, die die Handlung ermüdend erwartbar machen und noch dazu zum Teil wenig plausibel sind. Was macht ein Pädophiler? Natürlich knipst er kleine Jungs im Schwimmbad (mit einer Analogkamera!), was bei dem heutigen Bewusstsein für Kindesmissbrauch und dem Misstrauen, welches Fotografen, die im öffentlichen Raum fotografieren, eh schon entgegenschlägt, kaum glaubhaft ist. Natürlich muss der arme Wolf wieder dafür herhalten, um das innere Raubtier zu evozieren. Um sich abzureagieren - klar, geht man Boxen. Schon beim ersten Schritt, der im Treppenhaus zu hören ist, ist dem Betrachter klar, dass jetzt natürlich die alleinerziehende Mutter mit dem kleinen Sohn nebenan einzieht...
Die ganze Handlung gleicht einer schematischen Versuchsanordnung, in der die handelnden Personen nurmehr Schablonen sind, die das tun, was erwartet wird. Das wird verstärkt, durch den scheinbar kompletten Verzicht auf Setdesign und Innenrequisite. Die Figuren agieren in kahlen Räumen bar jeder Individualität und sagen auswendig gelernte Sätze auf. Schnell macht sich Langeweile breit. Das Fehlen jeglicher innovativen Erzählform prädestiniert den Film für den Mittwochabend in der ARD. So entscheidet man den Streit zwischen Kino und Streaming jedenfalls nicht.
Sie haben den Film gar nicht gesehen, stimmts? Die Berufung auf Dritte ist ein schwaches Argument. Ich bin selbst Filmkenner/Filmjournalist und beschäftige mich daher intensiv mit Filmen, auch ohne "Betroffener" zu sein. Leider ging mir der Film entgegen Ihrer Annahme überhaupt nicht nahe, das war auch der Kern meiner Kritik.