Am Ende ein Anfang

Kino In „Euforia“ bringt eine tödliche Erkrankung zwei entfremdete Brüder wieder zusammen
Ausgabe 08/2020

In Matteos Wohnung hängt ein Gemälde, das zwei junge Männer porträtiert. Beide tragen Hemden mit ähnlichem Muster, die in unterschiedlichen Farben aufleuchten. Der eine ist dem Betrachter zugewandt, der andere in Rückenansicht zu sehen. Die Kamera nimmt das Bild nur einmal in den Blick; im Vorübergehen fast – und doch mit Nachdruck. Das Doppelporträt besitzt eine emblematische Kraft, die sich dem Publikum nicht aufdrängt. Und doch könnte man auf die Idee kommen, in ihm sei bereits die ganze Geschichte enthalten, die Valeria Golino in ihrer zweiten Regiearbeit erzählt.

Es ist möglich, dass dieses Bild ausdrücklich für ihren Film gemalt wurde: Luca Berlinis Szenenbilder sind mit der diskreten Sorgfalt einer Goldschmiedearbeit gestaltet. Ebenso denkbar ist, dass es eine der Inspirationsquellen für Euforia war. Das Motiv des französischen Filmplakats zumindest greift diese Komposition auf. Es zeigt die Brüder Matteo (Riccardo Scamarcio) und Ettore (Valerio Mastandrea) Rücken an Rücken stehend, der Erste lächelt, das Gesicht des Zweiten wird vom Licht der untergehenden Herbstsonne sacht überstrahlt. Ihre Blicke mögen in unterschiedliche Richtungen weisen, ihre Körper jedoch sind in unmittelbare Nähe gerückt. Ungleiche Brüder sind sie auf jeden Fall – unvorstellbar, sie je in ähnlicher gemusterter Kleidung zu sehen –, aber doch durch eine unauslöschliche Kraft miteinander verbunden. Früher, als Kinder, hatten sie sich gewiss viel zu sagen. Nun müssen sie dies erst wieder lernen.

Sie haben viele Jahre aufzuholen, aber es bleibt ihnen wenig Zeit dazu. Bei Ettore ist ein Hirntumor festgestellt worden und Matteo trägt Sorge dafür, dass er in Rom die beste medizinische Versorgung erhält. Ihre Wiederbegegnung vollzieht sich als Konfrontation gegensätzlicher Lebensweisen. Der ältere Bruder ist in ihrer Provinzheimat geblieben und arbeitet dort als Lehrer. Der jüngere hat seine Herkunft hinter sich zurückgelassen. In der Hauptstadt, wo er es zu einem immens erfolgreichen Unternehmer gebracht hat, kann er seine Homosexualität frei ausleben.

Flüchtige Affären

Das hedonistische Pensum, das Matteos römisches Milieu von ihm erwartet – Partys, Drogen, flüchtige Affären –, erfüllt er mit aufreibender Gründlichkeit. Er müsste eigentlich der dem Betrachter offen Zugewandte auf dem Wandgemälde sein, aber im Verlauf des Films lernen wir, es als Vexierbild zu lesen. Während der zurückhaltende Ettore sich dem Leben immer weiter öffnet, wird Matteo bewusst, wie viel Verdrängtes unter der Oberfläche seiner Existenz lauert.

Diese Konstellation erinnert an Sein Bruder von Patrice Chéreau, wo ebenfalls die verschüttete Beziehung zweier Brüder durch eine Krankheit unversehens neu definiert werden muss und offene Rechnungen gestellt werden. Valeria Golino kehrt die Mechanismen der Vereinnahmung jedoch um: In Euforia ist es der gesunde Bruder, der das Drehbuch für den Lebensrest des älteren schreiben will. Wie schwer dessen Erkrankung tatsächlich ist, hält er vor ihm geheim. Auch seine Ehefrau (Isabella Ferrari), von der Ettore sich trennen wollte, und seine neue Liebe (Jasmine Trinca) hält er mit lässlichen Lügen still. Diese Bevormundung ist zugleich Barmherzigkeit. Golino, eigentlich eine versierte Schauspielerin (Rain Man, Porträt einer jungen Frau in Flammen), besitzt eine große Sensibilität für solche ethischen Gratwanderungen. Ihr Regiedebüt Miele (Honig, 2013) handelte von einer Studentin (wiederum Jasmine Trinca), die illegale Sterbehilfe leistet und dieses Mandat mit einfühlsamer Sachlichkeit erfüllt. Golino inszenierte das als eine selbstverständlich auch moralische Suchbewegung. Aber mehr noch beschäftigte sie die Frage, welche Ansprüche das Leben erhebt, wenn der Tod nahe ist.

Schon Miele war ein heikler Filmtitel mit seinen Assoziationen zu Milde und Nahrung. Auch Euforia mag auf Anhieb unangemessen, ja frivol klingen, aber Golinos lichter Film trägt ihn zu Recht: Er beschwört das Glücksgefühl, nicht allein zu sein. Der Erzählton kann brüsk und munter wechseln; Konflikte lösen sich oft in einem heiteren Nachspiel auf, die Trauer wird mit Situationskomik pariert. Die Montage legt ein immenses Tempo vor, dessen Dringlichkeit nicht allein Ettores Schicksal geschuldet ist. In dieser Familie wirkt ohnehin eine lebensbejahende Energie. Sie ist musisch – die Mutter kann wunderbar fidel pfeifen –; in einer der schönsten Szenen ertappt Matteo den Bruder dabei, wie er im Krankenbett einen alten Laurel-&-Hardy-Film schaut, zu dem sie sodann beschwingt tanzen.

Solche Momente sind keine poetischen Ausflüchte im Angesicht des Unausweichlichen. Ihre optimistische, ausgelassene Stimmung ist dem Schmerz abgetrotzt und wohlverdient. Sie sind wichtige Wegmarken im Prozess des Abschiednehmens. Zu den Regeln, die die Sterbehelferin in Miele befolgen muss, gehörte es, nie von der Zukunft zu sprechen, nie nach Wünschen zu fragen oder die Patienten auf ein Wiedersehen zu vertrösten. Die Brüder in Euforia sind an diese Regel nicht gebunden. Als sie einmal fürchten, sich aus den Augen verloren zu haben, finden sie einander wieder, weil sie aus unterschiedlichen Himmelsrichtungen einem Vogelschwarm folgen. Sie fallen sich in die Arme und dürfen sicher sein, dass es noch nicht ihre letzte Umarmung sein wird.

Euforia Valeria Golino Italien 2018, 115 Minuten

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