Es scheint, als würde sich Yumikos Kindheit hauptsächlich im Hofeingang ihres Mietshauses zutragen. Es ist ein fotogener Schauplatz; die Kamera kehrt gern an ihn zurück. Der Durchgang wirkt wie ein großzügiger Tunnel, der dem kleinen Mädchen einen Ausblick eröffnet auf die Welt da draußen. Dazu muss sie die Geborgenheit und Sicherheit ihres Zuhause nicht einmal verlassen. Er ist aber auch der Ort, an dem Yumiko als Zwölfjährige eine erste Erfahrung von Verlust macht: Ihre Großmutter nimmt Abschied, um zum Sterben in das Dorf ihrer Kindheit zurückzukehren.
Maboroshi, der bereits 1995 entstandene Debütfilm von Hirokazu Kore-eda, mag sich, genau wie seine Heldin, auch später nie ganz von diesem Schauplatz lösen. Er entwickelt eine eigene Ikonografie daraus, entdeckt immer wieder Motive, enge Gassen, Fenster und Türen, die einen Rahmen innerhalb der Komposition bilden und die Erinnerung wach halten an diesen Ort einer doppeldeutigen Obhut. Später begegnet Yumiko (Makiko Esumi) dort Ikuo (Tadanobu Asano), den sie für eine Reinkarnation ihrer Großmutter hält. Sie heiraten; es ist ein heiteres, ausgelassenes Glück, das das Paar miteinander teilt. Aber eines Tages, längst ist ihr gemeinsames Kind geboren, wird Ikuo von einem Vorortzug überfahren. Yumikos Trauer ist übermächtig, unablässig wird sie gepeinigt von der Frage, ob ihr Mann Selbstmord begangen hat - und wenn ja, aus welchen Gründen. Selbst als sie Jahre später erneut heiratet, wird sie von dieser Ungewissheit noch verfolgt: eine Obsession, von der es keine Erlösung zu geben scheint.
So überschreitet Yumiko jene Schonfrist, die die Gesellschaft Trauernden gemeinhin einräumt, bevor sie sich wieder dem Leben zuwenden. Den Selbstmord empfindet sie als Auflösung eines Paktes, als Vertrauensbruch: eine unerklärliche Lücke, die einen Makel hinterlässt im Andenken ihrer Verbundenheit. Ikuo hat sie in mehrfacher Hinsicht allein zurück gelassen.
Hollywoodfilme haben ja nur selten Geduld mit jener Zwischenzeit nach einem Verlust und vor einem Neuanfang. Es ist ihnen unbehaglich, wenn die Figuren in ihrem Schmerz versunken sind. Viel lieber propagieren sie die pragmatischeren Tugenden des Loslassens und Vorausblickens; Trauerarbeit scheint ihnen allenfalls durch den Mythos der großen, einmaligen Liebe gerechtfertigt. Der Japaner Kore-eda jedoch schreckt vor einem solchen biografischen und narrativen temps mort nicht zurück. Inspiriert zu seinem Debütfilm hat ihn die Begegnung mit einer jungen Witwe, die er einige Jahre zuvor während der Arbeit an einer Fernsehdokumentation kennenlernte: der Selbstmord ihres Mannes, eines idealistischen, dann aber resignierenden Beamten einer Umweltbehörde, gab ihr ein Rätsel auf, an dem sie verzweifelte.
Sein zweiter, hier zu Lande vor einigen Wochen erst gestarteter Film After Life aus dem Jahr 1998 bekräftigt, wie vielschichtig fasziniert vom Wesen der Erinnerung er ist, von der Verschlingung der Realität mit ihrer Ausschmückung oder Leugnung: Eine Gruppe von Beratern hilft auf einer Zwischenstation zur Ewigkeit den Verstorbenen, ihre glücklichste Erinnerung für die Ewigkeit auszuwählen. In Maboroshi beglaubigt Kore-eda das Credo seines japanophilen Regiekollegen Chris. Marker, der in Sans Soleil die Erinnerung nicht als das Gegenteil des Vergessens begreift, sondern als dessen Kehrseite. Die Trauerarbeit Yumikos kann sich nur im tätigen Erinnern vollziehen, das Verdrängen wäre für sie ein allzu frevelhafter Ausweg.
Viel Zeit lässt Kore-eda verstreichen, um den Zuschauer zum anteilnehmenden Zeugen dieses Prozesses zu machen. Es sind nur flüchtige Alltagsmomente, nichtige Details, und schließlich der Wechsel der Jahreszeiten, in denen er das ganze Gewicht von Yumikos Schmerz aufgehoben weiß und mit denen er zugleich deren allmählicher Lebenswende eine Struktur gibt.
Das Abschiednehmen ist, wie in den Filmen Yasujiro Ozus, die grundlegende Erfahrung seiner Figuren. An Ozu gemahnen auch die Tableaus der Versunkenheit, mit denen er die Atmosphäre aufgeladener Ereignislosigkeit einfängt. Es sind meist fixe, unbewegte Einstellungen, in denen Kore-eda sich als ein Fetischist des rechten Winkels entpuppt, der die Figuren vornehmlich frontal oder im Profil filmt. Ebenso wie in After Life ist es gerade eine strenge, klare Bildsprache, die eine Ahnung eröffnet von Transzendenz. Virtuos nutzt Kore-eda natürliche Lichtquellen - die flimmernden Reflexe des Sonnenscheins auf einer leeren Wand, das Gegenlicht, das die Silhouette der Figuren wie eine Aureole umfängt oder gleißend aufzulösen scheint -, um das Abwesende abzubilden. Das Licht ist vielleicht nur eine Illusion, wie der Untertitel des Films behauptet. Aber eine, die Heilung verspricht. Auch der Hofeingang aus Yumikos Kindheit war ja eine Passage vom Dunkel ins Licht.
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