Bring mir das Bild vom besiegten Berlin

Ausstellung Im Pariser Mémorial de la Shoah ist die Befreiung Europas aus sowjetischer Sicht zu sehen
Ausgabe 20/2015

Sowjetische Zuschauer, die während des Zweiten Weltkriegs Wochenschauen und Dokumentarfilme über das Geschehen an der Front sahen, wären nie auf die Idee gekommen, dass der Gegner einen Genozid betrieb. Aufnahmen von Davidsternen wurden aus den Montagen getilgt. Die drei Millionen heimischen Opfer der „Endlösung“ wurden nicht als Juden, sondern als Sowjetbürger bezeichnet, die Insassen der befreiten Konzentrationslager in Polen als Franzosen, Griechen oder Holländer identifiziert. Auch im Krieg der Bilder durften die Opfer nicht gewinnen.

Die Ausstellung Filmer la guerre im Pariser Memorial de la Shoah zeigt das Dilemma auf, in dem sich die sowjetische Kriegspropaganda befand: Träfe sie eine Unterscheidung, folgte sie womöglich der nationalsozialistischen Rassenideologie. Noch eine tiefere Ambivalenz scheint auf: Auch die russische Geschichte kennt Pogrome, und nicht alle Kriegsberichterstatter waren frei von antisemitischen Ressentiments. Die Schau wirft einen wachsamen, argwöhnischen Blick auf diese weitgehend vergessene Perspektive. Nach dem Ende des Großen Vaterländischen Kriegs fielen die in Paris ausgestellten Dokumente der Unsichtbarkeit anheim; während des Kalten Kriegs waren sie nicht mehr von Nutzen.

Allerdings sind es aufsehenerregende Dokumente. Bei der Rückeroberung des Territoriums gehörten Kameraleute, die die Armee begleiteten, zu den ersten Zeugen des Kulturbruchs. Gegenüber den Westalliierten hatten sie einen Vorsprung. Bereits ab 1941 verlangte die sowjetische Führung, dass die Verbrechen der Wehrmacht dokumentiert wurden. Sie verfolgte dabei drei Ziele: Kampfbereitschaft und Solidarität im eigenen Volk durch den Ruf nach Vergeltung zu stärken, Druck auf die Westalliierten auszuüben, eine zweite Front in Europa zu eröffnen, und schließlich Beweismaterial für spätere Prozesse zusammenzutragen. Für diese Aufgabe wurden 250 Kameramänner und -frauen abkommandiert, von denen 30 an der Front fielen. Gleich zu Beginn der Ausstellung unterstreicht ein Foto, wie wichtig ihre Aufgabe war. Ein auf einem Panzer sitzender Kameramann ist in heroischer Untersicht abgebildet, die keinen Zweifel lässt, wie kriegsentscheidend auch seine Waffe ist.

Sie musste unerträglich nahe an die Gräuel herangehen, denn sie filmte Verbrechen, von denen es zuvor keine Bilder gab. Eines der eindringlichsten Exponate zeigt den Kameramann Roman Karmen, der vor einem Turm aus Gebeinen und Totenschädeln kniet, um eine Großaufnahme zu machen. Das war nicht nur traumatisch, sondern Arbeit: Die Beweiskraft der Bilder musste unstrittig sein.

Auf ihr Mandat waren die Filmteams schlecht vorbereitet. Die Ausrüstung war mangelhaft – erst die dank westlicher Unterstützung verfügbare Handkamera Eyemo ermöglichte ein agileres Reagieren –, die Arbeit durch Materialengpässe erschwert. Andererseits wurden Experimente mit Farbe und 3-D unternommen. Behindert wurde die Arbeit nicht zuletzt durch das geheime deutsche Sonderkommando 1005, das alle Spuren systematischer Vernichtung beseitigen sollte.

Die mit didaktischem Elan konzipierte Schau nimmt eine akribische Differenzierung der Propagandastrategien vor. In seinem Film über die Schlacht um die Ukraine stellt Alexander Dowschenko erbeutetes Material von Wehrmachtsaufmärschen Bildern der Zerstörung gegenüber. Mark Donskoi setzt in seinem Film über das Massaker von Babi Ja mehrere Kameras gleichzeitig ein, um behände die Emotionen der Überlebenden einzufangen. Wichtig war auch, Kriegsgefangene ihre Taten vor laufender Kamera gestehen zu lassen.

Je stärker die industrielle Dimension des Tötens sichtbar wurde, desto größeres Gewicht bekam die Schilderung individueller Schicksale. Dass Augenzeugenberichte meist vom Kommentar überdeckt wurden, ist nur ein Indiz unter vielen, an denen die Ausstellung die Manipulation des Materials dingfest macht. In der historischen Chronologie verdichtet sich der Eindruck einer Fiktionalisierung. Auschwitz erreichten die Kamerateams erst vier Tage nach der Roten Armee, das Filmmaterial traf mit zweiwöchiger Verspätung ein. So musste die Befreiung nachgestellt werden: mit Insassen, die bereits an Gewicht und Lebensmut gewonnen hatten und wieder genug Kraft besaßen, um ihren Rettern zuzujubeln. Das Material reichte ohnehin nicht aus, denn für die Sowjetarmee besaß nun die Eroberung Berlins Priorität.

Info

Filmer la guerre Mémorial de la Shoah Paris Bis 27. September, memorialdelashoah.org

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