Würde man mehr von diesem Film erfahren, wenn man die koreanische Schrift lesen könnte? Entgeht westlichen Augen hier etwa eine entscheidende Bedeutungsebene, die in den Untertiteln nicht mitgeteilt wird? Oder dürfen wir sie einfach als Kalligrafie bestaunen und aufmerksam den anmutigen Gesten folgen, durch die sie entsteht?
Immer wieder rückt Kim Ki-duk in seinem neuen Film Schriftzeichen ins Zentrum seiner Bilder. Regelmäßig sind die beiden Hauptfiguren ins Schreiben vertieft. Der alte, buddhistische Mönch erreicht dabei ein Stadium der Versunkenheit, das sein junger Schüler wenn überhaupt erst in Jahrzehnten erreichen wird. In Windeseile bemalt der Alte jeden Handbreit der Holzplanken auf ihrer kleinen Insel, die der Jüngere sodann zur Buße über Nacht ausschnitzen soll. Einmal taucht der weise Mönch seinen Pinsel gar in klares Wasser, und gibt so die kunstvoll gemalten Lettern umgehend der Verdunstung preis. Zum Ende hin hat er sich Augen und Mund mit Buchstaben verklebt; vielleicht, um sich selbst dem Tod zu weihen.
Ein tiefes Misstrauen gegenüber der Sprache war bislang in Kim Ki-Duks Filmen zu spüren. Seinen Figuren ist sie weitgehend entzogen, ihre Lebensäußerung besteht oft genug in der blanken Gewalt. Auch Frühling, Sommer, Herbst, Winter ... und Frühling ist ein schweigsamer Film. Das Schreiben dient nicht vorrangig der Kommunikation, sondern ist eine zeremonielle Geste, die in ihrer Vergeblichkeit einen Sinn findet: als Übung, die eigene Lebenszeit in Stille und Bedürfnislosigkeit verstreichen zu lassen. Eine unverhoffte Gelassenheit herrscht in Kims Film, auf die uns weder Die Insel noch Bad Guy (2002 im Wettbewerb der Berlinale) vorbereitet haben. Urbane Beziehungslosigkeit und spirituelle Krisen seiner südkoreanischen Heimat hat der Regisseur bisher in Szenarien der Raserei übersetzt, in den Affekt des Tabubruchs und eine drastische, auch schockierende Symbolsprache. Ein verstörendes Nebeneinander von Innigkeit und Brutalität ist in seinem uvre zu spüren, das er nun - in einer rekordverdächtig umfassenden Autorenschaft: er ist in Personalunion Autor und Regisseur, Szenenbildner, Cutter und Darsteller - um eine kontemplative Variante ergänzt.
Dieses Beruhigtsein ist zunächst einmal dem Schauplatz geschuldet, einem Tempelkloster, das als hölzerne Insel mitten in einem abgelegenen Bergsee verankert ist. Die Kamera ist gefesselt von diesem Ort, kann sich gar nicht satt sehen daran, sucht unentwegt neue Distanzen und Perspektiven, in die sie den einsamen Tempel einbettet. So entfaltet er eine zweifache Aura, wirkt abgeschieden und zugleich welthaltig. Es ist ein Platz, an dem sich die Überlegenheit des spirituellen Lebens erweisen darf. Das Abwesende wird in diesem Refugium nicht als Mangel spürbar, sondern nur dann, wenn es einbricht in die Lebenssphäre der beiden Mönche. Die existenziellen Erfahrungen weiß Kim sämtlich aufgehoben in dieser Einsiedelei, die ihm als so karge wie prachtvolle Bühne für das Schauspiel des Lebenszyklus dient. Jede der fünf, den Wandel der Jahreszeiten nachvollziehenden Episoden wird mit einer Einstellung eröffnet, in der sich die Flügel eines allein im Wasser stehenden, mithin überflüssig gewordenen Tores öffnen, um den Blick freizugeben auf das Proszenium des Sees.
Das Motiv der rituell zu überwindenden Schwelle setzt sich fort mit einer weiteren Tür, die im Innern des Tempels jedes Mal geöffnet und überschritten werden muss, obwohl es gar keine Wand gibt. Das Unsichtbare zu akzeptieren, sich einem unbegreiflichen Prinzip anzuvertrauen, formuliert der Film als eherne Übereinkunft, die der Schüler erst spät brechen wird. In der Frühjahrsepisode lernen wir ihn im Kindesalter als einen unerschrockenen Tierquäler kennen. Die Metapher des Festgenüpftseins als Lebenszustand greift Kim hier motivisch auf, wenn auch nicht in der gleichen entsetzlichen Anschaulichkeit, wie sie die Angelhaken in Die Insel gewannen. Mit unschuldiger Grausamkeit bindet der Junge kleine Steine an einer Schlange, einem Fisch und schließlich einem Frosch fest. Am nächsten Morgen findet er sich beim Aufwachen selbst an einen kleinen Fels gefesselt, der ihm die Fortbewegung fast unmöglich macht. "Wenn eines der Tiere stirbt, wirst du diesen Stein immer auf deinem Herzen tragen", warnt ihn sein Meister. Später, im Winter, nachdem er diesen längst verlassen hat und in der Welt zum Totschläger aus Eifersucht geworden ist, wird er zum Tempel zurückkehren, wo er sich selbst eine neuerliche, steinerne Last auferlegt, um Buße zu tun. Unermüdlich zerrt er (in diesem Alter vom Regisseur selbst gespielt) den Fels einen Berg hinauf, um die Prophezeiung zu erfüllen und damit den Neubeginn, den der Filmtitel schon annoncierte, zu besiegeln.
Das Eingebundensein in die Natur und den Kreislauf des Lebens versteht Kim als Wiederkehr der Verantwortung. Längst hat er uns da eingestimmt auf seinen Erzählrhythmus versonnener Achtsamkeit, der in jedem körperlichen Akt dessen metaphysisches Geborgensein aufspürt. Eine solche Erzählung von Unschuld und Erfahrung hätte ein westlicher Regisseur im Zweifelsfalle als Erziehung des Herzens inszeniert, Kim Ki-Duk tut dies als Erziehung der Seele.
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