Die Aura der Geborgenheit

IM KINO Barry Levinsons Film »Liberty Heights« gelingt es, den Zuschauer Nostalgie empfinden zu lassen für eine Zeit, die dieser selbst gar nicht erlebt hat

Seine Filmografie ist der überzeugendste Gegenbeweis der amerikanischen Lebensregel »You can't go home again.« Barry Levinson hat seine zugleich besten und persönlichsten Filme in seiner Geburtsstadt Baltimore gedreht und hat so das Publikum teilhaben lassen an seinen Versuchen, sich der eigenen Wurzeln zu versichern, sich selbst in den Kinofiguren wiederzufinden. Die eigene Kindheit und Jugend sind für Levinson wie ein Schatzkästchen, aus dem er von Zeit zu Zeit Erinnerungsstücke hervorholt, um sie dann in filmische Preziosen zu verwandeln. In einer Feinschrift hat er diese autobiografischen Geschichten ausgeführt, die im Hollywood der groben Pinselstriche ihresgleichen sucht.

Die Zuschauer, die seine filmischen Zeitreisen in Diner, Tin Men und Avalon aufmerksam begleitet haben, sind längst mit der Topografie der Stadt Baltimore vertraut, können die verschiedenen Lebenssphären, Zeitebenen und Figurenkonstellationen der Filme mühelos vernetzen. Levinson selbst erschließt sich seine Geburtsstadt vornehmlich als unwägbares Gelände zwischen behüteter Jugend und der Verantwortung des Erwachsenenlebens. »Wenn man in Baltimore aufwächst«, hat er einmal eingestanden, »glaubt man nicht wirklich, dass man jemals erwachsen wird. Ich dachte, ich würde bis zu meinem Lebensende Taschengeld bekommen.«

Sein neuester Film Liberty Heights (der Titel bezieht sich auf das traditionell jüdische Viertel der Stadt) führt zurück ins Jahr 1954. Die Rassenintegration ist zwar per Gesetz an US-Schulen eingeführt worden. Aber noch scheinen die Schranken unverrückbar: »Keine Juden, Hunde und Farbigen erlaubt!« steht, genau in dieser Reihenfolge, am Zaun des Schwimmbeckens eines Country Clubs, durch den Ben Kurtzman (Ben Foster) sehnsuchtsvolle Blicke auf eine WASP-Schönheit wirft. Bens Erzählstimme geleitet uns durch den Film und versucht, die frühen Erfahrungen sozialer und ethnischer Differenz zu ordnen, die er und sein älterer Bruder Van (Adrien Body) machen.

Ben verehrt seine schwarze Mitschülerin Sylvia. Rebekah Johnson verleiht ihr eine vornehme Reife (Levinson ist ein großzügiger Figurenschöpfer: er beharrt darauf, dass nicht nur er, sondern auch seine Filmgestalten sich ihre Worte wohl überlegt haben). Van hat sich in ein Mädchen aus der Geldaristokratie verliebt. Ihr Vater, der den Lebens unterhalt mit illegalen Lotteriegeschäften verdient, ist gezwungen, sich mit einem Kleingangster aus dem Schwarzenviertel einzulassen; Levinson hat ihn klug mit Joe Mantegna besetzt, der seine Rollen als aalglatter, souveräner con man aus David Mamets Filmen hier glaubhaft um eine Nuance der Fürsorglichkeit bereichert. Kunstvoll verzahnt der Film in Parallelmontagen diese verschiedenen Grenzüberschreitungen miteinander.

Die sichtbarste Grenzlinie verläuft bei Levinson jedoch immer noch zwischen den Geschlechtern. Zwischen ihnen herrscht große Fremdheit in seinen Filmen. Er ist zwar ein verständiger Komplize der Obsessionen und Pedanterien seiner Helden (die Szene, in der Shrevie in Diner seiner Ehefrau mit der Ordnung seiner Plattensammlung gleich auch die Prioritäten seines Lebens erklärt, ist zu einem Anthologiestück geworden), ist aber zugleich hellsichtig genug, um hinter den Ritualen männlicher Kameraderie die Angst zu entdecken, die Frauen könnten noch etwas Tiefgründigeres als Sex erwarten.

Dabei grenzt sich Levinson nachdrücklich vom aktuellen Klima der deftig (und zum Teil gewitzt) pubertierenden Collegekomödien ab. Er ist einer der wenigen Hollywoodregisseure, denen man die Träume und Blessuren Heranwachsender ernsthaft anvertrauen wollte, denn er kann sich noch vorstellen, dass es das Herz eines Jungen schon erfüllen kann, einfach nur einen Nachmittag lang gemeinsam der Musik zuzuhören, die seiner Schulfreundin gefällt. Levinson hat viel Geduld mit der Verlegenheit und Beklommenheit Heranwachsender, mit den noch unentschiedenen Gefühlen, mit dem erst später Begreifbaren. Ihre Naivität und Unschuld vermag er auch aus reifer Distanz ohne falsche Überheblichkeit einzuholen. Er gibt den Charakteren und dem Milieu Raum, sich zu entfalten, ohne gleich von einer Geschichte in Dienst genommen zu werden. Er ist ohnehin weniger an ihren Handlungen, als an ihren Reaktionen und Haltungen interessiert. In Liberty Heights ist ihm der Kreisschluss zweier Rosh Hashana-Feiern, jüdischer Neujahrfeste, schon erzählerischer Rahmen genug.

In seinen Baltimore-Filmen wird das Beiläufige zum Hauptläufigen, die Atmosphäre und tragikomischen Wechselfälle des Alltags erscheinen ihm schon spektakulär und erzählenswert genug. Levinson besitzt ein unvergleichliches Talent, zuzuschauen, wie Lebenszeit verstreicht. Seine Montagesequenzen flüchtiger Impressionen und Momentaufnahmen sind von schwebender Musikalität. Sie versetzen den Zuschauer in einen sanften Bewegungssog, der ihn diskret zum kardinalen Thema seines Kinos führt: dem Wesen der Erinnerung. So gelingt ihm das Kunststück, den Zuschauer Nostalgie empfinden zu lassen für eine Zeit, die dieser selbst gar nicht erlebt hat. Eine glühende Aura von Geborgenheit liegt über Liberty Heights, ein melancholisches Einverständnis, dass die Ereignisse und der eigene Lebensweg letztlich die richtige Wendung nehmen werden.

Als Bens Erzählstimme ein letztes Mal am Ende des Films ertönt und er sich an die Worte eines Verwandten erinnert: »Wenn ich gewusst hätte, dass die Dinge so vergänglich sind, hätte ich mich besser an sie erinnert«, kreuzen sich die Wege von Levinsons Erinnerungsreisen durch Baltimore noch einmal. Mit dem gleichen Satz bilanziert am Ende von Avalon der Großvater Sam, auch er ein passionierter Geschichtenerzähler, sein Leben. Aber bei welchem Regisseur wäre ihre Sorge besser aufgehoben als bei Barry Levinson, dessen Kino ein zärtliches, beharrliches Aufbegehren gegen das Vergessen ist?

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