Die Kinder des Monsieur Marin

Kino Laurent Cantets semidokumentarischer Spielfilm "Die Klasse" vermisst die Grenzen der Republik im Schulzimmer

Es wird schwerlich ein Zufall sein, dass die bemerkenswertesten Filme über die Schule in den letzten zehn Jahren aus Frankreich stammen. Ein Land, in dessen kulturellem Kalender die rentrée, der Schulbeginn im September, das zentrale Datum ist (beispielsweise finden dann die wichtigsten Filmstarts statt), misst dieser Institution eine besondere Bedeutung zu.

Auf je eigene Weise reflektieren Regisseure wie Bertrand Tavernier, Nicolas Philibert, Abdellatif Kechiche und nun Laurent Cantet, wie sich die Vorstellungen von Unterricht und Bildung wandeln und registrieren dabei, wie klassische Modelle der Pädagogik ausgedient haben. Es beginnt heute (1999) handelte von der heroischen Anstrengung eines Lehrers, die sozialen Härten zu mildern, Sein und Haben (2002) schilderte eine Zwergschule als einen geschützten, achtsam auf das Leben vorbereitenden Ort, in L´Esquive (2003) eröffneten sich Schülern aus einem sozialen Brennpunkt bei der Aufführung eines Marivaux-Stücks ungekannte Möglichkeiten des Spracherwerbs und der (auch romantischen) Selbstverwirklichung.

Laurent Cantet, der ein einzigartiges Talent besitzt, die alten sozialen Fragen auf radikal aktuelle Weise zu stellen, erschließt sich in Die Klasse einen urbanen Mikrokosmos, an dem er das republikanische, laizistische Ideal der Schule auf seine Tauglichkeit prüft: als Institution, die gleichermaßen einschränkt wie befreit, die Sorge tragen muss, niemanden auszugrenzen und doch die Disziplin zu wahren; die Vielfalt anerkennen und zugleich die Werte einer Kultur vermitteln muss.

Das Plakatmotiv scheint sämtliche Vorurteile über die Widerspenstigkeit heutiger Schüler zu entkräften: Es zeigt, wie sie sich diszipliniert melden und konzentriert nachdenken. Die Filmwirklichkeit sieht indes auf verblüffende Weise anders aus. Gemeinsam mit seinem langjährigen Co-Autor und Cutter Robin Campanillo hat Cantet den gleichnamigen Tatsachenroman des ehemaligen Lehrers François Bégaudeau adaptiert, der selbst die Hauptrolle spielt. Im Pariser Nordosten erteilt Monsieur Marin Schülern im Alter von 14, 15 Jahren, die hauptsächlich aus Zuwandererfamilien stammen, Französischunterricht. Er hat dabei mit lebhaftem Widerstand zu kämpfen. Die aufgeweckten Schüler stellen jede Aufgabe, jedes Angebot erst einmal in Frage. Entsprechend schwer ist es mitunter, die Regel "Erst lernen, dann diskutieren" durchzusetzen. Die Schüler stellen ihn gern auf die Probe, womit er spielerisch umgeht.

Bisweilen ergeben sich die Themen des Unterrichts in dessen Verlauf, wenn der Lehrer Debatten provoziert oder die Fragen der Schüler auf sie zurückwirft, um ihnen beizubringen, ihre eigenen Vorurteile zu überdenken. Nicht immer wird Marin seinem Ziel der Ermutigung gerecht; nicht zuletzt wegen seiner Fahrlässigkeit droht dem renitenten Souleymane der Verweis von der Schule (der gleichbedeutend ist mit dessen Heimkehr in sein Dorf im Maghreb). Das Gerechtigkeitsempfinden der Schüler ist unbestechlich. Marin schafft eine Atmosphäre des Dialogs, in der sie ihm berechtigte Vorwürfe machen können.

Die Sprache, nicht das Wissen steht in Die Klasse im Zentrum der Machtverhältnisse; sämtliche Konflikte kristallisieren sich um sie. Insgeheim hat längst eine Umkehrung stattgefunden: Die Lehrer haben gelernt, sich auf die Sprache der Schüler einzulassen, um sie zu erreichen. Denn die Gefahr des Bruchs droht permanent. Lustvoll liefert sich Marin mit seinen Schülern blitzschnelle, ihre fahrige Aufmerksamkeit einkalkulierende Wortgefechte, respektiert bis zu einem Grad ihren Wunsch, das letzte Wort zu behalten, versteht es aber auch geschickt, ihre Widerreden wie einen Pass zu parieren. Cantet hat diese Rededuelle mit gleichzeitig drei Kameras wie ein Tennismatch gefilmt.

In Frankreich wurde über den Film, der in Cannes im letzten Mai überraschend die Goldene Palme gewann, leidenschaftlich debattiert. Konservative Lehrer warfen ihm seinen heiklen Modellcharakter vor: in dieser Klasse würde mehr diskutiert als gearbeitet, ein strukturierter Lehrplan sei nicht zu erkennen. Dabei erzählt Cantet von einem wechselseitigen Lernprozess, einer Schule der Demokratie, deren einziger Souverän die Gemeinschaft ist. Er zeichnet ein großzügiges Bild des Berufes, in dem sich Scheitern und Erfolge auf eine Weise die Waage halten, die letztlich Vertrauen schafft in das Funktionieren des Systems. Eine Grunderfahrung der Schulzeit spielt in Die Klasse überhaupt keine Rolle: die Langeweile.

Die Offenheit des Unterrichts, das scheinbare Außerkraftsetzen einer verbindlichen Struktur überträgt Cantet in eine Dramaturgie, die episodisch dem Verlauf eines Schuljahres folgt. Entre les murs heißt sein Film im Original, eine Grenzziehung, die er streng einhält - nur die erste Szene spielt außerhalb der Mauern der Schule. In Der Jobkiller und Auszeit hat Cantet bereits gezeigt, wie präzise er den filmischen Raum zu vermessen weiß. Die Grenzen sind porös, die Außenwelt, zumal die französische Migrationspolitik, dringt in den Mikrokosmos ein, den Lehrern bleibt indes wenig Handhabe, über den Schulalltag hinaus etwas im Leben ihrer Schützlinge zu bewirken.

Der halbdokumentarische Erzählgestus gehorcht freilich einer entschiedenen Strategie der Ermächtigung. Der Film ist komplett mit Laien besetzt, die Schüler spielen jedoch nicht sich selbst, sondern durften in ausführlichen Workshops ihre Figuren mit entwickeln. Der Film spricht nicht für sie, sondern lässt ihnen ihre eigene Sprache. Dieses System geschickt gezügelter Freiheiten verweigert sich den Konventionen, mit denen das Kino gemeinhin emotionale Teilhabe erzeugt (es gibt keine suggestive Musik), und schlägt seine Zuschauer doch souverän in den Bann. Man ist bewegt von Souleymanes Schicksal, empfindet große Sympathie für den Protest Khoumbas, die von ihrem Lehrer mehr Respekt fordert.

Es fällt schwer, Laurent Cantets Klasse nach zwei Stunden am Ende des Schuljahres zu verabschieden. Und es zerreißt einem fast das Herz, als eine bis dahin stille Schülerin Monsieur Marin gesteht, dass sie nicht glaubt, in diesem Schuljahr etwas gelernt zu haben. Er ist ratlos angesichts ihrer Niedergeschlagenheit. Aber sie hat keine Scheu mehr, ihrem Lehrer dieses Geständnis anzuvertrauen. Das Lernen ist ein rätselhafter, magischer Prozess in Die Klasse.

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