Eine schöne Definition dessen, was die Größe des Kinos ausmacht, hatte der amerikanische Volksschauspieler James Stewart: Wenn ein Schauspieler talentiert ist und das Glück hat, die eigene Persönlichkeit durchscheinen zu lassen, dann schenkt er dem Publikum kleine Momente, die es nie vergisst. Stewart formulierte dies in aller Bescheidenheit, er sprach von „tiny, little pieces of time“. Es genügte also, dass sie klitzeklein waren, um zur Größe beizutragen. Natürlich kannte Stewart Im Taxi mit Madeleine nicht, aber die dramatische Komödie des französischen Regisseurs Christian Carion erfüllt die Definition verblüffend genau. Sie kommt bescheiden daher und steckt doch voller Momente, die man so bald nicht vergisst.
t vergisst. Zeit und Erinnerung sind freilich auch sein Thema und Beweggrund.Eingebetteter MedieninhaltArchetypisch mürrisch„Une belle course“ (so der Originaltitel) verspricht eingangs die Disponentin dem Taxifahrer Charles (Dany Boon), der gerade einen unleidlichen Fahrgast abgesetzt hat. Die „schöne“ Fahrt soll von Bry-sur-Marne nach Courbevoie gehen, eine lange Strecke, die durch ganz Paris führt. Seine Kundin ist die 92-jährige Madeleine (Line Renaud), die nach einem Sturz ihr Zuhause aufgeben und in ein Altersheim ziehen soll. Zunächst scheinen die zwei überhaupt nicht zueinander zu passen. Charles ist ein archetypisch mürrischer Taxifahrer, der finanzielle Sorgen und kein Ohr für die Wünsche seiner Gäste hat. Die ältere Dame hingegen ist eine freundliche Natur und leutselig auf vornehme Art. Sie hat es nicht eilig, an ihr Ziel zu kommen. Immer wieder bittet sie den Chauffeur, an Orten Halt zu machen, die in ihrer Vergangenheit einmal eine Bedeutung hatten und die sie nun vielleicht zum letzten Mal sehen wird. Dem klammen Charles ist das recht, sein Taxameter läuft schließlich. Madeleine lässt derweil ihr Leben Revue passieren und bringt ihn schließlich dazu, auch aus seinem zu erzählen. Noch ahnt er es nicht, aber diese Fahrt wird seine ganze Schicht lang dauern, und am Ende wird es ihm unmöglich sein, von seinem Gast das Fahrtgeld einzufordern.Christian Carion ist ein Spezialist für filmische Duette, in denen die Generationen voneinander lernen. Bekannt wurde er mit Eine Schwalbe macht den Sommer, wo er einen altersmüden Bauern (Michel Serrault) und eine stadtflüchtige junge Frau (Mathilde Seigner), die seinen Hof übernimmt und in die Zukunft führen will, in einen forschenden Dialog über Lebensträume und Zweifel verstrickte. In seinem Spionagefilm L’affaire Farewell tun sich ein französischer Geschäftsmann (Guillaume Canet) und ein sowjetischer Überläufer (Emir Kusturica) in der Hoffnung zusammen, den Kalten Krieg beenden zu können. Auch Im Taxi mit Madeleine handelt von einer Begegnung, die zu einer Konjunktion wird: dem Versprechen, verändert aus ihr hervorzugehen oder doch zumindest die eigene Existenz in einem neuen Licht zu betrachten.Madeleine hat ein bewegtes Leben hinter sich, das der Film in immer ausführlicheren Rückblenden illustriert. Nach der Befreiung von Paris verliebte sie sich, kaum 17-jährig, in den GI Matt, der nach drei Monaten heimkehrte in die USA und nie erfuhr, dass sie ein Kind von ihm erwartete. Noch heute, 76 Jahre später, schmeckt sie den ersten Kuss auf ihren Lippen. Ihr Sohn Mathieu war das große Geschenk ihres Lebens. Jung träumte sie vom Theater, wo ihre Mutter als Garderobiere arbeitete. Dann heiratete sie einen Mann, der sich als gewalttätiger Trinker entpuppte. An den Geschmack seiner Küsse will sie sich nicht erinnern. Als sie Vergeltung übte für seine brutalen Misshandlungen, trug ihr dies eine lange Haftstrafe ein. Der Sohn, den sie als Kind zurückließ, war nun ein Mann geworden. War sie enttäuscht oder stolz, dass er sein Jurastudium aufgab, um ein gefeierter Fotojournalist zu werden? Der Film nimmt sich nicht die Zeit, das zu entscheiden, trotz seines entspannten Tempos rollt er Madeleines Leben ziemlich rastlos auf.In gerade einmal anderthalb Stunden will der Film kurzweiliger sein, als es diese beiden Biografien verdienen. Denn auch Charles gewinnt präzisere und einnehmendere Konturen. Auch er besitzt Stolz und ist überzeugt, die eine große Liebe gefunden zu haben. Also ist er doch ein Romantiker, frohlockt sie, der sich nur maskiert! So nähern sich die zwei auf ihrer Reise durch Zeit und Raum unaufhaltsam an; der vermeintliche Choleriker und die sturmerprobte Optimistin schließen einen Pakt des Vertrauens und der Offenheit. Carion und sein Co-Autor Cyril Gely vollziehen ihn nicht ohne sentimentale Verklärung. Aber die Versöhnlichkeit ist in guten Händen bei den zwei Hauptdarstellern, die zum vierten Mal gemeinsam vor der Kamera stehen.Französische IkoneDreimal führte Dany Boon dabei selbst Regie (unter anderem bei der Willkommen-bei-den-Sch’tis-Saga), diesmal konzentriert er sich ganz auf die Rolle des empfänglichen Partners. Die Chansonsängerin Line Renaud, die mit Maurice Chevalier, Bob Hope und Dean Martin auftrat und sich mit 50 Jahren als Theater- und Filmschauspielerin neu erfand, ist eine französische Ikone. Auf diesem Status ruht sie sich nicht aus, zieht aber eine leise, eindringliche Bilanz ihres Werdegangs. Das Drehbuch zieht diskrete Parallelen zwischen ihrem Leben und dem Madeleines – auch Renauds Mutter erledigte während der deutschen Besatzung Botengänge für die Résistance; wie Madeleine, die im Film unter anderem zur Galionsfigur im Kampf gegen häusliche Gewalt wurde, legte auch Renaud ihren Ruhm in die Waagschale, um sich sozial zu engagieren (zunächst im Kampf gegen Aids, nun für ein selbstbestimmtes Sterben). Für die bezaubernd rüstige, im Juli 95-jährige Renaud ist Im Taxi mit Madeleine ein filmisches Testament – aber eins, das in die Zukunft schaut.Placeholder infobox-1