Dass die Orte der eigenen Kindheit einem später viel kleiner erscheinen, ist eine Erkenntnis, die bei aller Banalität nichts von ihrem Zauber einbüßt. Die Welten, in denen sich die tapferen, kleinen Lebenshelden Hayao Miyazakis behaupten müssen, sind von einschüchternder Größe. Die Dimensionen der Bauwerke und Landschaften sind derart unermesslich, dass sich hinter ihnen gleich noch andere Welten offenbaren. Miyazakis Gabe, die verschüttete Ursprünglichkeit dieser Wahrnehmung neuerlich einzuholen, verleitet leicht dazu, die Frage, ob nun Kinder oder Erwachsene mit einem reicheren Erfahrungsschatz aus dem Kino heimkehren, zugunsten Letzterer zu bescheiden.
Dabei unterschätzt man die Schrecknisse, die die Geschichten für Kinder berei
nder bereithalten. Die Exposition von Das Schloss im Himmel, der nun mit zwanzigjähriger Verspätung in unsere Kinos kommt, kündigt einen reinrassigen Actionfilm an. Waffenstarrende Piraten kapern ein Luftschiff, um ein kleines Mädchen namens Sheeta zu entführen. Auf der Flucht vor ihnen stürzt sie in die Tiefe. Dank der Kraft eines magischen Kristalls fällt sie jedoch nicht, sondern schwebt zur Erde hinab. Gerade noch rechtzeitig, bevor sie in der Tiefe eines Bergwerkschachtes abstürzt, fängt sie der gleichaltrige Pazu auf. Der Junge, der nach dem Tod der Eltern allein lebt und als Minenarbeiter tagtäglich sein technisches Geschick unter Beweis stellt, nimmt sie bei sich auf. Sheeta wird fortan nicht nur von den Piraten, sondern auch von Soldaten und rätselhaften Beamten gejagt, die ihr das Geheimnis ihres Kristalls entreißen wollen. Sie entpuppt sich als die letzte Überlebende der Königsdynastie des legendären, im Himmel schwebenden Landes Laputa. Seit Pazus Vater es einst gesehen hat, träumt sein Sohn davon, es wiederzufinden.Trapezkünstlern gleich, die ohne Netz arbeiten, müssen die beiden Kinder auf ihrer Flucht die eigene Höhenangst bewältigen. Immer wieder klaffen drohende Abgründe und unendliche Tiefen unter ihnen. Die Welt scheint vornehmlich vertikal eingerichtet zu sein in diesem Film. Die Kamerabewegungen sind kaum je auf die Horizontale ausgerichtet, sondern schwenken an Bergen oder Bauwerken empor oder in die Tiefe von Schluchten hinab. Wie Risse, schmerzhafte Einschnitte in die Oberfläche der Welt wirken die Schauplätze, an denen Pazu und Sheeta zunächst ihre Abenteuer zu bestehen haben. Bald schließen sie sich jedoch den Piraten an und erobern fortan die Lüfte. Die Wolken scheinen eine solche Dichte zu besitzen, dass man meint, auf ihnen stehen zu können. Es sind indes nicht bloß halsbrecherische Triumphe über die Schwerkraft, die Miyazakis Figuren erringen. Sie werden insgeheim getragen von einem Grundvertrauen in die Elemente. Das verlassene Arkadien Laputa, das die beiden Waisenkinder am Ende finden, erweist sich als ein Baum, der wacker im Nichts wurzelt. Die atemraubende Anschaulichkeit von Miyazakis Visionen überdeckt bisweilen, wie symbolgefügt und anspielungsreich seine Welten tatsächlich sind.Der Verweis auf Jonathan Swifts Gullivers Reisen (dessen unbekannteste Reise den Helden ebenfalls in ein Reich namens Laputa verschlug) ist dabei eher beiläufig und keineswegs augenzwinkernd eingeflochten. Der Japaner verfolgt nicht die Strategie amerikanischer Animationsfilme, deren hohe Budgets sich nicht zuletzt deshalb rentieren, weil sie der Intelligenz von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen zu schmeicheln verstehen. Der auch nach zwanzig Jahren unverwüstliche Zauber seines Films verdankt sich vielmehr dem Drang nach neugieriger Weltteilhabe, der Regisseur und Figuren gemeinsam ist. Das Niemandsland, in dem Miyazakis Filme zu spielen scheinen und in denen sich die Zeitepochen kurios überlagern, ist stets in der Realität verankert. Zu Das Schloss im Himmel wurde er durch eine Reise inspiriert, die er 1984 während des großen Bergarbeiterstreiks nach Wales unternahm.Auf vertrackte Weise sind seine Filme meist in den Anfängen des Industriezeitalters angesiedelt, wo die Zerstörung der Umwelt bereits besiegelt scheint. Kostüme, Technik und Waffen verweisen hier auf den Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Verheerungen des Weltkriegs färben auch diesen Film wie eine Grundierung ein, die immer wieder sichtbar wird. Gleichwohl ist das Universum des Zivilisationspessimisten Miyazaki nicht trostfrei.Die altmodischen, unfertig wirkenden Flugmaschinen beweisen ebenso wie seine kindlichen Helden eine erstaunliche, beglückende Tüchtigkeit. Das wunderbare Überstehen der Gefahren wird belohnt mit einer magischen Entschlüsselung der Welt. Bei ihrer Erkundung des Wesens der Dinge und der Menschen offenbart sich Pazu und Sheeta nicht nur die Vielgestaltigkeit der Schöpfung, sondern auch deren Vieldeutigkeit. Die Selbstlosigkeit der beiden Helden mag unangefochten bleiben, gleichwohl entdecken sie die Schattierung der Moral. Die eingangs noch Furcht erregenden Piraten stellen sich bald als schüchterne Müttersöhnchen heraus, deren simplem Ehrenkodex allemal mehr zu trauen ist als der Machtgier der Militärs und Politiker. Eine aufgeklärte Abenteuerlust trägt am Ende den Sieg davon. Der Blick, den wir dann endlich auf den offenen Horizont, auf harmonische, pastorale Hügellandschaften werfen können, weiß um deren Abgründe.