Nein, das Fieberthermometer hat sie nicht bei ihrem jungen Patienten vergessen. Es ist nur ein Vorwand, eine lässliche Lüge an der Türsprechanlage, damit Dr. Davin noch einmal zu Bryan zurückkehren kann. Er soll ihr endlich die Wahrheit über das unbekannte Mädchen erzählen. Beim ersten Besuch war er verstockt. Aber als sie seine Schläfe berührte, spürte sie, wie sein Puls plötzlich raste, nachdem er das Foto der Unbekannten gesehen hatte.
Jede Geste, die die Hausärztin Jenny Davin (Adèle Haenel) im neuen Film der Brüder Dardenne vollführt, ist zweideutig. Sie agiert auch als Detektivin. Wenn sie ihre Patienten behandelt, sucht sie zugleich nach Spuren. Ihre Hände sind nicht nur Instrumente der Heilung, sondern dienen auch der Beschaffung von Indizien. Als Ärztin ist sie legitimiert, Fragen zu stellen. Das funktioniert auch andersherum: Jeder Verdächtige ist ein potenzieller Patient, dem sie selbstverständlich Fürsorge schuldig ist. Ein Arzt, darauf legen die Regisseure Nachdruck, strebt immer auch danach, sich selbst zu heilen.
Um jeden Preis will Jenny die Identität der jungen Afrikanerin ermitteln, die eines abends nach Dienstschluss an ihrer Praxistür klingelte und kurz darauf ermordet aufgefunden wurde. Sie kann sich nicht verzeihen, dass sie ihr damals nicht öffnete. Das Gefühl, zum Tod eines Menschen beigetragen zu haben, ist für eine Ärztin gewiss doppelt unerträglich. Die Türsprechanlagen, die sich als Leitmotiv durch den Film ziehen, erinnern allerorten an diese Schuld; die Unbekannte ist die einzige Figur des beklemmenden Films, deren Stimme nie zu hören ist.
Sie ist nicht die einzige Leerstelle, um die herum das Drehbuch konstruiert ist. Jennys Privatleben bleibt ein Geheimnis. Nur das komplizierte Verhältnis zu ihrem Praktikanten, der kaum jünger ist als sie, eröffnet eine sachte Ahnung. Beide ringen mit ihrer Berufung: Wie viel Abstand braucht es, um sie aushalten zu können? Jenny ist eine aufmerksame, ihren Patienten zugeneigte Ärztin. Nun setzt sie sich selbst dem Martyrium allzeitiger Verfügbarkeit aus, schlägt ihr Bett in der Praxis auf, die sie eigentlich abgeben wollte, um eine lukrativere Stelle im Krankenhaus anzunehmen. Das Türschild ist dort schon angebracht, aber der Champagner, mit dem der Einstand gefeiert wird, hinterlässt in ihrem Mund einen schalen Geschmack.
Stattdessen bleibt sie im elegisch maroden Seraing, das seine Zukunft als Zentrum der belgischen Stahlindustrie längst hinter sich hat. In ihrer Berufung spiegelt sich auch die ihrer Regisseure, die nie auf die Idee kämen, irgendwo anders zu drehen. Wie hätte Das unbekannte Mädchen wohl ausgesehen, wenn die Dardennes an ihrem ursprünglichen Plan festgehalten hätten, die Hauptrolle mit André Dussollier zu besetzen? Mit einem so erfahrenen Schauspieler hätte es vielleicht ein Gefälle gegeben; Adèle Haenel agiert selbstverständlicher auf Augenhöhe mit den Laiendarstellern.
Ausweg aus der Scham
Nun ist es ein diagnostischer Film geworden, auch ein kranker – zumindest in dem Sinne, den die Cahiers du Cinéma diesem Begriff einst gaben: einer, dem etwas fehlt und der sich unlösbaren Problemen stellt. Das unbekannte Mädchen ist lesbar als ein gebrochener Kriminalfilm, der die Konturen des Genres abtastet und doch stets die Reise durch eine Gesellschaft sein will, deren Widersprüche und Gewalt ihn bekümmern. Gegenüber der Fassung, die im Mai auf dem Festival von Cannes weitgehend auf Ablehnung stieß, haben die Brüder ihren Film um sechs Minuten gekürzt. Es sind minimalinvasive Eingriffe – einige Szenenanfänge und -enden sind verknappt, die Behandlung eines illegalen Einwanderers wurde verdichtet; es fehlt die Einstellung, in der Jenny Blumen zum Grab bringt, das sie für die Unbekannte gekauft hat –, aber den Rhythmus verändern sie nachhaltig.
In der dezenten, aber wirkungsvollen Revision zeigt sich, wie präzise die Filmemacher arbeiten. Sie kehren zu den philosophischen Fragen ihrer frühen Werke zurück (Schuld und Gnade) und übersetzen sie in die Konkretion der Gesten. Jede Szene nehmen sie in langen Plansequenzen auf, die die Geschehnisse in Realzeit festhalten. Das verleiht den Momenten unbestechliche Integrität. Die Kamera beobachtet die Figuren – und lässt zu, dass deren Bewegungen die Bewegungen des Films vorgeben. Die Menschen, denen Jenny begegnet, illustrieren keine Sozialstatistiken, sondern scheinen in ihrer Individualität auf. Sie haben das Anrecht, in einem Drama aufzutreten, in dem Alltägliches außerordentlich wird.
Eine Neugierde zeigt sich in diesem Kamerarhythmus, der darauf wartet, dass die Charaktere verborgene Wahrheiten offenbaren. Ein fahler Optimismus leuchtet auf, wie stets bei den Dardennes. Jenny bewegt viel durch ihre Ermittlungen; ihre Beharrlichkeit erlöst die anderen aus Verschlossenheit und Scham. Das unbekannte Mädchen erhält einen Namen.
Info
Das unbekannte Mädchen Jean-Pierre und Luc Dardenne FRA/ BEL 2016, 113 Minuten
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