Die Tauben hinter der Parkbank

Ausstellung Die Werkschau des Fotografen André Kertész vollzieht den Weg vom Landleben in die Großstadt nach. Die Impressionen von New York gehören hier zu den schönsten Entdeckungen

Als der in Paris zu beträchtlichem Ruhm gelangte Fotograf sich in New York bei den großen Zeitschriften vorstellte, erhoben die Redakteure einige Einwände gegen seinen Stil. Einer beschied ihm, seine Fotos sprächen zu sehr, ihre Sinnhaftigkeit lenke zu stark von den Texten ab. Ein anderer fand sie zu menschlich und riet ihm, brutaler zu werden.

André Kertész, der in seiner ungarischen Heimat mit überschwänglicher Neugierde verwurzelt und in Paris ein begeisterter Emigrant gewesen war, ist in den USA nie heimisch geworden. Obwohl er die Staatsbürgerschaft erwarb und annähernd fünf Jahrzehnte dort lebte, spiegeln seine Fotos wider, wie fremd und unglücklich er blieb. Gern hat er betont, er fühle sich so verloren wie die kleine Wolke, die sich auf einer seiner schönsten Aufnahmen neben die Fassade des Rockefeller Center verirrt hat. Auf seinen Bildern wirkt New York einsamer als etwa Paris. Den Washington Square, den er vom Balkon seiner Wohnung im 12. Stock überblicken konnte, nahm er vorzugsweise im Winter auf. Hat er je ein traurigeres Foto gemacht als jenes, das einen alten Mann zeigt, der auf einer Parkbank sitzt und nicht bemerkt, wie sich hinter seinem Rücken ein Schwarm Tauben sammelt?

Die Impressionen von New York gehören zu den schönsten Entdeckungen, welche die Werkschau im Pariser Jeu de Paume bereithält. Sie ist die erste große Ausstellung in Frankreich, seit Kertész in den achtziger Jahren sein Archiv dem französischen Staat vermacht hat. Die Vorbehalte der amerikanischen Redakteure sind kein schlechter Anfang, um sich das Werk zu erschließen. Kertész hat, selbst in der klaren Geometrie seiner Sachfotografien (etwa der berühmten Gabel von 1928 oder Piet Mondrians Brille), eine Empfindsamkeit der Fotografie kultiviert. Sogar angesichts der Schrecken des Ersten Weltkriegs sucht er noch nach der süßen Kostbarkeit des Lebens. Später fotografiert er immer wieder Kriegsversehrte und Prothesen; nicht im Geist der Revision, sondern der Ergänzung. Seine Straßenszenen, die – oft in der Aufsicht – ihre Spannung aus der Diagonalen beziehen, verraten ein tiefes Einverständnis mit der Alltagswelt. Die Kamera verwendet er wie einen Skizzenblock, den er wach- und einfühlsam füllt. In seinen Stillleben treten die Objekte in einen sinnlichen Dialog miteinander.

Der Parcours der Ausstellung setzt mit seinen ersten Aufnahmen 1912 ein und verpflichtet den Betrachter sogleich zu höchster Aufmerksamkeit: Sie sind im Miniaturformat der originalen Kontaktabzüge belassen und müssen mit einer Lupe studiert werden. Insgeheim vollzieht die Schau den Weg vom ländlichen Leben in die Großstadt nach, wobei sich beide Sphären in den Pariser Jahren noch einträchtig überlappen. In den Künstlerkolonien am Montparnasse findet Kertész die Geselligkeit des Dorflebens. Der emporragenden Monumentalität New York setzt er eine Intimität des Blicks entgegen. In den leuchtend farbigen Polaroids, die im letzten Lebensjahrzehnt nach dem Tod seiner Frau entstehen, kulminiert diese Tendenz der Vertraulichkeit. In dieser Serie hält er auf seinem Fenstersims drapierte Gegenstände fest, in denen die Erinnerung an die Frau lebendig bleibt. Bei aller Melancholie erzählen sie davon, wie ein gebrochener Mann sich noch einmal in einen jugendlichen Künstler verwandeln kann.

André KertészLintime plaisir de lire. Bis 6. Februar, Jeu de Paume, Paris

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