Ein besonderes Zeitmaß herrscht in diesem Film. Er legt Tempo vor, es wird viel gerannt. Er handelt von Situationen, die dringlich sind. Immer wieder muss jemand zur Stelle sein, um eine Krise zu bewältigen. Seine Hauptfigur stellt er im Laufschritt vor. Bruno (Vincent Cassel) hastet durch eine Station der Pariser Metro, betritt das dortige Polizeirevier. Er wurde zu einem Notfall gerufen. Joseph (Benjamin Lesieur), der nun ganz friedlich wirkt, hat die Notbremse der Metro gezogen; nicht zum ersten Mal. Gegen die Festnahme hat er sich heftig gewehrt, einen der Beamten soll er gar gebissen haben. Geübt vermittelt Bruno zwischen den streitenden Parteien; er versteht es, zu überzeugen.
Es ist ein großes Kinoglück, dass der Film sich ganz ins Schlepptau seines Helden gibt. Denn Bruno ist ein Mensch, der immer in Eile ist, aber stets Zeit findet. Als Gründer des Vereins „La Voix des Justes“ muss er jederzeit verfügbar sein. Seine Organisation betreut jugendliche Autisten, übernimmt auch die ganz schweren Fälle, die von staatlichen Institutionen ausgesondert werden. Für viele Familien ist Bruno die letzte Zuflucht. Alle Welt stellt Forderungen an ihn. Und er hat ein offenes Ohr für sie. Auch wenn die Lage aussichtslos scheint, hat er eine Antwort parat. Meist lautet sie: „Ich finde eine Lösung“, ebenso gern sagt er: „Wir sind fast da.“ Zwei schönere Sätze werden Sie in diesem Kinojahr nicht mehr hören.
Alles außer gewöhnlich ist eine Hommage an die genügsame Professionalität seines Helden. Bruno hat kein Privatleben, seine Aufgabe ist ihm Romantik genug: Er glaubt an Möglichkeiten. Das Autoren- und Regieduo Éric Toledano und Olivier Nakache hat ihm überdies einen zuverlässigen Freund an die Seite gestellt, Malik (Reda Kateb), der den Verein „L’Escale“ leitet. Die zwei haben ein System der Einzelbetreuung etabliert und ihre Teams an sozialen Brennpunkten rekrutiert. Ihre unorthodoxen Methoden werden vom Gesundheitsministerium mit Argwohn verfolgt. Bruno sitzen aktuell zwei Inspektoren im Nacken.
Unerbittlich wohlmeinend
Der Originaltitel Hors normes stellt die Betreuer und ihre Schützlinge außerhalb der gesellschaftlichen Konventionen. Das ist in den Augen der Regisseure ein poetisches Vorrecht: Diese wackeren Alltagshelden leben Demokratie nach eigenen Regeln und wirken umso heroischer, als nie eine Klage über ihre Lippen kommt. Keiner muss hier allein für sich einstehen, jeder ist aufgehoben in einer Gemeinschaft. Der Film macht auch kein Aufheben darum, dass Bruno ein Kippa tragender Jude und sein Partner ein praktizierender Muslim ist. Eine handelsübliche Komödie hätte mühsam Funken daraus geschlagen, dass sich Gegensätze erst zusammenraufen müssen. Hier können sie Vertraute sein. Die Religion spielt für ihr Engagement eine untergeordnete Rolle – als gute Republikaner nehmen Toledano und Nakache da einen laizistischen Standpunkt ein –, sie repräsentiert vielmehr Milieus, die nicht exklusiv, sondern durchlässig sind: koscher und halal. Die Gesellschaft konstituiert sich für diese Regisseure ganz selbstverständlich in Vielfalt. Die Sprache, die in den verschiedenen sozialen Sphären ihre je eigenen Codes besitzt, erhält dabei besonderes Gewicht. Wenn Bruno dem zweifelnden Arbeitgeber von Joseph erklärt, die Worte hätten eben eine andere Bedeutung für ihn, ist das ein Plädoyer dafür, Andersartigkeit anzunehmen.
Diese Aura tätigen Wohlwollens, mit der die Filmemacher ihre Charaktere umfangen, ist belastbar. Sie wird getragen von einem Darsteller-Ensemble, in dem Laien und Profis lebhaft zueinanderfinden. Die Annäherungen sind spannungsvoll. Der Film nimmt sich viel Zeit für ein zweites Gespann. Der schüchterne Betreuer Dylan (Bryan Mialoundama), der widerspenstig seine Identität und Zukunft sucht, kommt zunächst gar nicht mit den Stimmungsschwankungen des dreizehnjährigen Valentin (Marco Locatelli) zurecht, der mal in sich versunken ist und dann in Gewalt ausbricht. Wie sehr fiebert man dem Moment entgegen, in dem er endlich seinen Schutzhelm abnehmen darf! Regelmäßig macht der Film sich seine Perspektive zu eigen, lässt akustisch und visuell nachempfinden, wie fremd sich die Welt für einen jungen Autisten anfühlt. Den Darstellern gelingt ein kostbarer Moment lyrischer Übereinkunft, als sie gemeinsam lernen, ein Pferd zu streicheln.
Die zarte Romanze, die Toledano und Nakache zwischen Dylan und einer patenten Pflegerin anbahnen, mag eine Spur zu treuherzig sein. Aber die Regisseure sind eben unerbittlich wohlmeinende Erzähler. Ihr Kino beschwört keine Utopien, ohne ihnen eine solide Basis zu geben. Wie in Ziemlich beste Freunde ist diese Geschichte der Wirklichkeit entnommen. Bruno und Malik haben reale Vorbilder, mit denen das Regieduo seit Jahrzehnten befreundet ist und über die sie bereits einen Dokumentarfilm gedreht haben. Im Abspann sind Stéphane Benhamou und Daoud Tatou zu sehen. Benhamous Verein heißt in Wahrheit „Le Silence des Justes“, im Film haben die Gerechten eine Stimme. Die Beglaubigung durch das real Erlebte könnte erpresserisch sein, oder ein erzählerischer Freibrief. Toledano und Nakache sind zu redlich, um ihn sich auszustellen. Vielmehr schließen sie einen Pakt, der ein wachsames Publikum miteinbezieht: In Gesellschaft ihrer Figuren empfindet man ein Hochgefühl, das tragfähig genug ist, um es ins wahre Leben mitzunehmen.
Info
Alles außer gewöhnlich Olivier Nakache, Éric Toledano Frankreich 2019, 114 Minuten
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