Ein Abenteurer, kein Hasardeur

Der entscheidende Augenblick Nachruf auf Henri Cartier-Bresson

Mitten im Tumult des Pariser Mai 1968 beobachtete ihn der Regisseur Louis Malle einmal zufällig bei der Arbeit. Nur vier Bilder in der Stunde habe er geschossen, der Aufruhr, das Hochgefühl der historischen Stunde verleiteten ihn nicht dazu, von seinem eigenen, gemessenen Rhythmus abzuweichen. Das eigene Metier besaß für Henri Cartier-Bresson ohnehin eine verdächtige Eile. Er nannte es im Vergleich zu seiner eigentlichen, seiner großen Passion, der Malerei, ein beschleunigtes Zeichnen. Bei der Fotografie ginge es um die augenblickliche Reaktion, die er als voreilig und flüchtig beargwöhnte. Die Zeichnung jedoch hielte einen an zu Meditation und Nachdenklichkeit.

Es sind dann auch bezeichnend ungeläufige Augenblicke, die er vom Pariser Mai festhielt. Nicht der Furor der Studenten hat seinen Blick gefesselt, sondern die Verstörung der großbürgerlichen Zaungäste, die Grimmigkeit der Polizeikordons und die Tristesse der hinterbliebenen Trümmer. Als guter Fotojournalist hatte Cartier-Bresson nicht das Ereignis selbst überliefert, sondern die Reaktionen darauf; er befragte das randständige, erhellende Detail. Seine Art der Reportage verriet gleichermaßen ein ausgeprägtes soziales Bewusstsein wie eine nobel distanzierte Sicht. Die Sensationsfotografie überließ er den Anderen - den Krieg etwa wusste er bei Robert Capa in guten Händen, mit dem zusammen er 1947 die Fotografenkooperative Magnum gründete.

Dabei besaß er die einzigartige Gabe, immer genau dort zu sein, wo sich das 20. Jahrhundert entscheidend zutrug. Er hat dessen Protagonisten getroffen und dessen zentrale Ereignisse bezeugt. Er war gerade rechtzeitig (beim dritten Versuch) aus deutscher Kriegsgefangenschaft geflohen, um bei der Befreiung von Paris dabei zu sein. Gandhi fotografierte er eine Viertelstunde vor dessen Ermordung und blieb in Indien, um westlichen Augen vorzuführen, mit welch inbrünstiger Verehrung um ihn getrauert wurde. Den Sieg des Kommunismus in China hielt er fest - freilich nicht den Triumph Maos, sondern die Verzweiflung der Verlierer, die panischen Versuche der Kuomintang in Shanghai, ihre Habe in Sicherheit zu bringen. Voller Melancholie war er zur Stelle, nachdem in Berlin die Mauer hochgezogen wurde. Den Verlust von Freizügigkeit macht er kenntlich als versperrten Blick, die verzagte, hartnäckige Schaulust der Menschen deutet er als Aufbegehren gegen die Spaltung einer Lebenssphäre, die - das spürt man im pathetischen Danach dieser Fotos - einst intakt und unteilbar war.

Cartier-Bresson war kein Zaungast dieser Situationen, sondern ein achtsamer Zeuge. Das Fotografieren entsprach für ihn den Notizen eines Schriftstellers. Sein fotografisches Werk darf man lesen als Tagebuch eines Weltbürgers, der für sich reklamierte, nicht zu reisen, sondern in den fernen Ländern auf Augenhöhe mit den Einwohnern zu leben. Ohne die Entwicklung der Leica wäre er wohl nicht Fotograf geworden, denn die geräuschloseste aller Kameras gewährte ihm das Privileg der Unauffälligkeit. Die längst verbrauchte Metapher der Jagd, des Anpirschens, löste Cartier-Bresson freilich auch in seiner Biografie ein: Anfang der dreißiger Jahre verdingte er sich zeitweilig als Großwildjäger in Nordafrika.

Am 22. August 1908 wurde er in Chanteloup, in unmittelbarer Nähe von Paris in eine wohlhabende, musische Familie geboren. Mütterlicherseits stammt er von Charlotte Corday ab, die 1793 Marat erdolchte, väterlicherseits von Corneille. Er lehnte es ab, den Familienbetrieb, eine florierende Textilfabrik zu übernehmen. Statt dessen tummelte er sich im Umkreis der Surrealisten, studierte bei André Lhote. Zur Fotografie kam er, als er während seiner Nordafrika-Eskapade krank wurde und sich im Spital die Zeit vertreiben musste. Auch mit dem Kino hat er geliebäugelt, ganz ernsthaft, als Assistent von Jean Renoir (mit dem ihn die Vorliebe für die Parallelität der Geschehnisse verbindet, die eigentümliche Aufmerksamkeit, die Nebenfiguren geschenkt wird) und als politisch engagierter Dokumentarfilmer. Ende der sechziger Jahre zog er sich aus den Tagesgeschäften bei Magnum und bald auch von der Fotografie zurück, um sich wieder dem Zeichnen zu widmen. Mit seiner zweiten Frau, der Fotografin Martine Franck, residierte er an der Rue de Rivoli, in unmittelbarer Nachbarschaft des Louvre, wo er die alten Meister studieren konnte. Rabiat und oft genug mit seinem berüchtigten Spazierstock verwehrte er sich fortan gegen das Eindringen in seine Privatsphäre.

Seinem Rückzug fehlte es nicht an einer gewissen Koketterie: Ob er wirklich davon überzeugt war, alles erreicht zu haben in diesem Medium, bleibt fraglich. Insgeheim fotografierte er weiter, beispielsweise die Blumenmeere, mit denen vor dem Buckingham Palace um Lady Di getrauert wurde. Der Umstand, als Jahrhundertgestalt gefeiert zu werden und das Bewusstsein, damit alle Anderen in den Schatten zu stellen, wird ihm wohl geschmeichelt haben, ihm zugleich aber auch zur Last geworden sein. Die kurz vor seinem Tode gegründete Fondation Henri Cartier-Bresson widmet sich weniger seinem eigenen fotografischen Nachlass, sondern öffnet ihre Ausstellungsräume vornehmlich Kollegen.

Mit Cartier-Bresson ist eine beängstigend universale Gestalt gestorben, eine Leitfigur des Humanismus in Werk und persönlichen Gesten. Einer, der die essenziellen Wahrheiten über die eigene Kunstform gleich selbst formulierte. Sogar den verständlichen Impuls des Haderns mit seinem dominierenden, unumstößlichen Status, mit der Kanonisierung, die sein Werk seit Jahrzehnten gegen jede Kritik abzuschirmen scheint, vermag er zu entkräften: durch den Blick auf seine Fotos. Dass sein geflügeltes Wort vom moment décisif, vom rechten, entscheidenden Augenblick längst zum Gemeinplatz geworden ist, kann man nicht ernsthaft gegen sie ins Feld führen; allzu beiläufig, unaufdringlich stellt er sich ein.

Cartier-Bressons Fotografien übersetzen den Überschwang des Lebens in eine strenge Geometrie. Wie seinem Freund und künstlerischen Antipoden Robert Doisneau gelingt es ihm, den Zufall zu zähmen; freilich ohne dessen Faible für die Anekdote. Die Koinzidenz scheint kunstvoll drapiert, sein distanzierter Blick offenbart beispielsweise im Verkehr auf der Place de la Concorde eine geheime, verborgene Ordnung. Dabei schlägt er der Uniformität, dem Ornament der Masse regelmäßig ein Schnippchen. Viele seiner Straßenszenen spielen mit dem Deplaziertsein, der Kollision. Aber nie käme man auf die Idee, die Menschen seien ein Fremdkörper, gehörten dort nicht hin.

In seinen Porträts ist der Raum drumherum ebenso wichtig, stets stellt Cartier-Bresson eine Resonanz her zwischen Protagonist und Requisite: etwa in der Art, wie Susan Sontag ihre Zigarrette weit von sich hält, wie die Schatten der Jalousien auf Arthur Millers Antlitz fallen oder der blutjunge Truman Capote in einem Gewächshaus von Blättern gefressen zu werden droht. In den Porträtstudien, die er von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre (getrennt voneinander) aufgenommen hat, werden beide jeweils von einer Straßenlaterne flankiert: als habe der Ironiker hinter der Kamera deren Luzidität nicht nur in ihren Gesichtern aufgespürt, sondern auch als Aura, als Chiffre in ihrem Ambiente. So geraten Cartier-Bressons Kompositionen ihm zu einer Wette mit der Harmonie: das Individuum, das nicht im Einklang mit der Welt, mit Natur und Technik zu existieren versteht, ist doch für einen Sekundenbruchteil aufgehoben in einer Utopie der Übereinstimmung.


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