Ein Gesicht für Zeitgeschichte

Offen, zerrissen, bedeckt Porträt des Schauspielers Sebastian Koch

Er ist der Erste, der durch das Guckloch schaut und damit eine Schwelle überschreitet. Er weicht zurück, muss schlucken angesichts des Schauspiels, das sich seinen Augen darbietet. Dann blickt er doch wieder wie gebannt hin, bevor er sich endgültig abwendet und einen wortlosen Blick in die Runde wirft. Die eigene Reaktion gibt er vorerst nicht preis, wartet ab, wie es wohl den Anderen nach diesem Anblick ergehen wird. Weitere Offiziere wagen einen Blick in die Baracke, auch ihnen ist der Schrecken anzusehen. Aber unsere Wahrnehmung ist längst von der des ersten Augenzeugen bestimmt, er hat uns den Blick eröffnet auf etwas, das wir nicht sehen wollen.

In einer Schlüsselszene seiner Hochhuth-Verfilmung Der Stellvertreter macht Costa-Gavras uns für einen Moment zu Komplizen der SS-Offiziere, die als erste mitansehen, wie Juden vergast wurden. Sebastian Koch spielt Höss, der diesen Schock nur mir den Zuschauern teilt, sonst aber die Fassade wahrt. Man mag sich vorstellen, wie er danach zuhaus sagt: "Man wäre ja kein Mensch, wenn einen das nicht berührte." Aber in seiner nächsten Szene ist er schon wieder vollends mit den logistischen Problemen des Holocaust beschäftigt, spricht von den Opfern nurmehr als "Einheiten". Für einen Moment flicht er sogar spöttisch einen jiddischen Akzent ein, während er seine Berechnungen darlegt. Gibt es viele Schauspieler, denen wir bei diesem Schritt folgen würden, mit der gleichen Balance von Abscheu und Aufmerksamkeit?

Man könnte meinen, Costa-Gavras habe für das Casting seines Films zahlreiche deutsche Fernsehspiele aus den letzten Jahren studiert. Denn seit Todesspiel und Der Tunnel hat der Schauspieler systematisch eine Galerie von historisch verbürgten Figuren angelegt, die uns (noch) angehen. Es scheint eine ausgemachte Sache zu sein, ihn auf Persönlichkeiten der Zeitgeschichte zu abonnieren: eine Besetzungsstrategie, die beinahe schon abgelöst wirkt vom Einfluss des Schauspielers und seiner Regisseure, die eher schon den Sehgewohnheiten des Fernsehpublikums und der Bequemlichkeit von Produzenten und Casting-Agenturen geschuldet scheint. Die Widersprüche, Zerrissenheiten der deutschen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts haben ein Antlitz bekommen, das diese freilich erst herstellen muss, denn sie sind ihm nicht augenblicklich anzusehen.

Koch besitzt eine gewinnende Aura, ein vertrauenswürdiges und anmutiges Gesicht, das den Zuschauern Wege gangbar macht, die sie sonst nicht beschreiten würden. Eigentlich wären diesem Gesicht alle Gefühlsregungen augenblicklich anzusehen, derart offen ist es. Er muss also dagegen anspielen: mit der Schminke, die Klaus Manns Gesicht in Die Manns anfangs stets zur Maske werden lässt, mit der Strähne, die Richard Oetker in Der Tanz mit dem Teufel regelmäßig in die Stirn fällt, mit der Augenklappe des Widerständlers Stauffenberg, schließlich mit der Brille, die er als Liebhaber Catherine Deneuves in Marie und Freud trägt. In diesen Filmen wird es zum gezeichneten Gesicht. Das Lächeln, das in Der Tanz mit dem Teufel von einem Leben in Ausgelassenheit erzählt, das ohne die Entführung möglich gewesen wäre, ist notwendig knapp. Das aufmunternde, unternehmungslustige Funkeln in seinen Augen verspricht Zuversicht (und noch nicht Trost, dafür ist er zu jung), in jedem Fall ist es ansteckend und verführerisch.

Es ist bezeichnend, dass seine Figuren häufig Teil einer Verschwörung sind. Den Terroristen Andreas Baader hat er im Todesspiel verkörpert, einen Fluchthelfer in Der Tunnel. Selbst dem entführten Oetker verleiht er etwas Geheimbündlerisches im Umgang mit Anwälten und Ermittlern. Die Konspiration zur Vernichtung der Juden in Der Stellvertreter konterterte er gleichsam mit der Rolle des Hitler-Attentäters Stauffenberg. Im letzten Jahr war er in Der große Aufstand zum 50. Jahrestag des 17. Juni zu sehen, demnächst verkörpert er für Heinrich Breloer Albert Speer; weiterhin ist eine Biografie des Langläufers Dieter Baumann im Gespräch.

Es ist natürlich kein Schicksal, sondern bestenfalls ein Mandat, in lauter Filmen mitzuwirken, zu deren Design unverzichtbar das Einblenden von historischen Daten gehört. Darsteller beschwören dafür gern das Pathos einer doppelten Verantwortung, nicht nur für die Rolle, sondern vor allem gegenüber den realen Vorbildern. Auch Koch tut dies, schließlich sind es allesamt Figuren, die uns wie gesagt noch etwas angehen. Diese Filme sind meist vom Ende her gedacht und oft auch, als Rückblende, erzählt. Da Ausgang und Konsequenzen bekannt sind, müsste sich eine innere Folgerichtigkeit der Darstellung der abgeschlossenen, äußeren Chronologie eigentlich fügen. Koch und seine Regisseure sind sich indes der Gebote der Fiktion bewusst. Stauffenberg etwa erscheint als ein Reagierender, fast als ein Bürokrat, der die gestische Rückversicherung eines Aktenkoffers braucht. Koch erschließt ihn sich freilich vor allem im Zwiespalt der Hingabe an zwei Menschen, denen er gleich lang durch einen Schwur verbunden ist: seiner Ehefrau Nina und Adolf Hitler. Der Widerständler ist in Jo Baiers Film niemals ohne den Ehemann zu haben, der noch in unmittelbarer Todesgefahr auf ein klärendes, erlösendes Gespräch mit seiner Frau hofft. "Also kein Abschied", sagt er nach dem letzten, vergeblichen Versuch, sie telefonisch zu erreichen, und versiegelt damit einen privaten Raum, der sich dem Zugriff der Nazi-Justiz entzieht.

Kochs Filme sind häufig Mehrteiler, die dem Publikum eine intensivere Art der Identifikation anbieten, da es die Figuren über mehrere Fernsehabende begleiten kann. Dieser ausdauerndere erzählerische Atem kommt dem Temperament des Darstellers entgegen, seiner Vorliebe für sich entfaltende, auch wandelnde und gebrochene Ausdruckslinien. Andreas Baader stellt er in Todesspiel in einem Stadium verblüffender Gelassenheit vor, als er Nüsse knabbernd die Fernsehnachricht von der Schleyer-Entführung registriert. Koch betont die Momente des Zögerns, des Innehaltens, sodass die Forderungen, die der Inhaftierte gegenüber dem Staat stellt, zunächst besonnen und überlegt, erst später anmaßend wirken.

Auch in Die Manns ist diese Geduld und Zurücknahme zu spüren, sich in den Dienst der Rolle und des Films zu stellen. Klaus Mann erscheint eingangs als eine flüchtige, problematische Präsenz noch ganz aus der Perspektive des Vaters, für den er durch seine offen ausgelebte sexuelle Orientierung zu einem Spiegel der eigenen, uneingestandenen Sehnsüchte wird. Mählich löst er sich aus dieser perspektivischen Brechung, arbeitet erst im Exil die Rastlosigkeit, Zerrissenheit des Schriftstellers heraus. Heinrich Breloers spezifischer Erzählgestus des Dokumentarspiels problematisiert zusätzlich die Zeichnung der Figuren. Sie werden durch Interview-Aussagen von Zeitzeugen sowie dokumentarisches Material kommentiert bzw. beglaubigt; in jedem Fall bleibt der Blick auf sie bedingt. Es bedarf des Instinktes eines Charakterdarstellers, um diese Figuren zu behaupten, zu verteidigen. Zugleich muss man die Aura eines Stars besitzen, um sie aus diesem Erzählsystem zu lösen: Sebastian Koch ist keiner, der zurücktreten müsste hinter seine Rollen.

Am 15. und 16. März wiederholt arte im Nachmittagsprogramm Marie und Freud, vom 21. März an strahlt die ARD Die Manns. Ein Jahrhundertroman noch einmal aus.


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