Erinnerungen an die Zukunft

IM KINO Wong Kar-wais traumverloren-schwebender Film "2046" sinnt in einem Labyrinth von Affären auf die Wiederholung einer Liebe

Kurz vor dem Start von In the Mood for Love hatte Wong Kar-wai vor vier Jahren noch rasch eine Liebesszene heraus geschnitten, die er als zu indiskret empfand. Sie später auf der DVD als Bonus zu sehen, war eine befremdliche Erfahrung. Die Liebesgeschichte zwischen Mr. Chow (Tony Leung) und seiner Nachbarin Li-zhen (Maggie Cheung) schien zu delikat, um sie den filmischen Konventionen von Erfüllung und Sättigung preiszugeben. Der Schwebezustand, in dem Wong sie beließ, das Wechselspiel der sehnsuchtsvollen Blicke und lasziv gerauchten Zigaretten, war suggestiv genug.

Die geschnittene Szene widersetzt sich der Verschwiegenheit seiner Inszenierung, der Zurückhaltung der Schauspielergesten, die in einer ausgeklügelten Dramaturgie des Vorenthaltens die Leinwand mit Emotionen aufluden. Der Film war schließlich eine opulente Inszenierung des Abwesenden, eine Ausschweifung der Reduktion: Das Kino ging gleichsam eine Wette mit sich selbst ein, ob es in der Verweigerung des Sichtbaren nicht doch der Essenz eines Augenblickes, eines Gefühls, auf die Spur kommen könne. In 2046, der in vieler Hinsicht eine Fortsetzung von Wongs In the Mood for the Love ist, gibt es hingegen einige explizite Liebesszenen. Ihre Anschaulichkeit müsste in seinem Erzählsystem eigentlich unter dem Vorzeichen der Entzauberung stehen, müsste die Kostbarkeit des Unausgelebten schmälern. Aber Wong verleiht in 2046 jedem Moment eine doppelte Wertigkeit von Gegenwart und Vergehen. So ist das Hotelzimmer am Morgen nach der Liebesnacht ein Ort der Abwesenheit, über dem ein Zauber köstlicher Schwermut liegt.

Sechs Jahre sind seit dem Ende des ersten Films vergangen, Chow trägt nun einen Schnurrbart im Stil Clark Gables und gibt sich auch sonst den Anschein eines Playboys. Er ist nach Hongkong zurückgekehrt, wo 1966 auf den Straßen gegen die britischen Kolonialherren demonstriert wird. Er hat sich auf das lukrativere Schreiben pornografischer Science-Fiction-Romane verlegt. Sein Romandebüt, das in einem futuristischen Hongkong spielt, welches sich dem 50. Jahrestag der Rückgabe der Kronkolonie an China nähert, trägt den gleichen Titel wie Wongs Film: 2046 (Mit dem Titel hat es eine vieldeutige Bewandnis: Er verweist auf die Nummer des Hotelzimmers, in dem Chow damals als Nachbar Li-zhens wohnte; darüber hinaus gestattet das nostalgische Zahlenspiel Wong einen ironischen Kommentar zum Erwartungsdruck, der auf seinem Fortsetzungsfilm lastet. Chows Verleger verlangt nach dem Verkaufserfolg des Erstlings umgehend nach "2047").

Chow unterhält mehr oder weniger flüchtige Liebschaften, mit denen er versucht, das Andenken an die einzig wirkliche auszulöschen. Seine Beziehungen zu den vier Frauen, die in sein Leben hinein- und unweigerlich wieder hinausgleiten - die Prostituierte Lulu (Carina Lau), die Tänzerin Bai Ling (Zhang Ziyi), Jing Wen (Faye Wong), die aufbegehrende Tochter seines Vermieters, und schließlich die Glücksspielerin Li-zhen (Gong Li), die den gleichen Namen trägt wie seine große Liebe - unterscheiden sich zwar in mehr als nur Nuancen und Variationen: das Drehbuch hat die Episoden als feinsinnige Balance zwischen Seelenverwandtschaft und körperlicher Anziehung gegliedert; die Besetzung ist überdies ein berückendes Defilee chinesischer Leinwandschönheit. Aber Maggie Cheung bleibt, einem Phantom gleich, stets gegenwärtig. Die elegant geschnittenen Kostüme, kunstvoll toupierten Frisuren und geschminkten Lippen ihrer Nachfolgerinnen erscheinen wie ein verlockender Nachklang ihrer Aura.

2046 wird heimgesucht von der Erinnerung an den vorangegangenen Film, und zugleich von der Unmöglichkeit der Wiederkehr. Dieser Film über Entwurzelung und Exil mag sich nicht vollends lösen von der trancehaften Atmosphäre, die Wong mit seinem Kameramann Christopher Doyle in In the Mood for Love zelebrierte. Wiederum verfügt der Regisseur virtuos über das Vokabular des Kinos, entlockt der Kamera eine hypnotische Beweglichkeit und ordnet die Bilder in einer sanften, traumverlorenen Montage. Tony Leung und seine Gefährtinnen scheinen durch den Film zu schweben. Dass 2046 beinahe noch rigoroser kadriert scheint, verdankt sich nicht zuletzt dem Cinemascope-Format. Es verstärkt die plastische Wirkung der Fragmentierung, der Wong die Gesichter und Körper unterwirft. Diese Konzentration und Aussparung verleiht den Kompositionen eine einzigartige melodramatische Präzision. Türrahmen verwehren regelmäßig den Kamerablick auf Interieurs, Requisiten drängten sich beharrlich ins Bild, der Blick auf die Räume öffnet sich mit dem Zögern, mit dem man sich einer Schatztruhe nähert.

2046 ist mithin kein Double des Vorgängers geworden. Wong hat stilsicher eine andere, innere Bewegung für ihn gefunden. Die hermetische Geschlossenheit von In the Mood for Love bricht er sacht auf, ohne dabei an klaustrophobischer Anmutung zu verlieren. Im ausufernden Off-Kommentar vermischen sich Chows Tagebucheintragungen mit dem inneren Monolog seines Romanhelden; die Zukunft eröffnet unablässig die Chance, der Gegenwart zu entkommen und ist zugleich eine Erweiterung der Vergangenheit. Die Zeitebenen überlagern sich (wobei die Science-Fiction-Passage die am wenigsten gelungene ist). Das Ritual der Wiederholung, das Aufgreifen der Gesten in Zeitlupe addieren sich zu einer Schleife, aus der sich der Film und seine Figuren nicht befreien können. Kein Wunder, dass Wong die Arbeit an seinem Film nicht abschließen wollte, ihn nach vier Drehjahren unmittelbar vor der Premiere in Cannes noch einmal umschnitt und nun für die Verleihfassung neu montiert hat. Es ist allzu verführerisch, sich zu verlieren in der Verschlingung der Episoden, im System der Variation und Umkehrung, im Labyrinth der Affären, die die Ahnung schüren, dass Liebe immer nur die Wiederholung einer anderen ist.

Der Sog der Erinnerungen, in den Chow sich begibt, wirft beharrlich die Frage nach seiner emotionalen Beteiligung auf. Seine Affären beginnt der Romanautor in einem Stadium anteilnehmender Nachbarschaft (auch im Sinne eines Voyeurismus), er führt eine geborgte Existenz. Sein Erleben ist stets gefiltert, die Liebesbegegnungen dienen ihm als Anlass melancholischen Erinnerns, als Erfahrungen, die erst im Rückblick ihren Wert gewinnen. Eine der schönsten, traurigsten Ideen seines Romans ist die verzögerte Reaktion eines weiblichen Liebesandroiden, der erst nach einer Stunde lachen und Tränen erst am nächsten Tag vergießen kann. So herrscht in 2046 eine Atmosphäre emotionalen Entrücktseins, in der sich der Zuschauer schon in In the Mood for Love einrichten durfte: Der Titel verwies ja ohnehin nur auf die Stimmung, nicht auf die Bereitschaft zur Liebe.


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