Endlich ist einmal wieder Musik in einem Autorenfilm zu hören! Shoplifters ist nur wenige Augenblicke alt, als die ersten Noten erklingen. Das geschieht ganz sacht, der Schläger des Perkussionisten berührt behutsam das Becken und hält dann beharrlich den schleichenden Rhythmus. Von der Trommel hält er sich fern, sie würde zu machtvoll die Aufmerksamkeit der Zuschauer erregen. Das vertrüge sich nicht mit dem erzählerischen Temperament von Hirokazu Koreeda, der die Situationen um seiner Figuren willen gern in der Schwebe hält.
Diese ersten Noten sind eine Wohltat, denn allzu gründlich haben die Regisseure uns von ihrem Erlebnis entwöhnt. Der Sozialrealismus der belgischen Brüder Luc und Jean-Pierre Dardenne, der so etwas wie eine Leitwährung des internationalen Autorenkinos geworden ist, hat die Filmmusik unter den Generalverdacht unbilliger Zerstreuung gestellt. Auch mit dem erzählerischen Ethos der Berliner Schule oder der Strenge eines Michael Haneke ist sie schlecht vereinbar. Aber der japanische Regisseur Hirokazu Koreeda besteht darauf, dass das Leben seiner Figuren eine Erzählung verdient, die auf alle künstlerischen Mittel zurückgreift, die dem Kino zu Gebot stehen.
Also schürt sein Komponist Haruomi Hosono leise die Spannung, was Shota und sein Vater Osamu wohl im Schilde führen mögen, als sie den Supermarkt betreten. Der Filmtitel hat uns zwar schon eingeweiht, aber wir sind doch gespannt, wie sie zu Werk gehen werden. Die beiden Ladendiebe sind aufeinander eingespielt, ihre Körper verwehren in gekonnter Abstimmung abwechselnd Überwachungskameras und Verkäufern den Blick auf ihre Räuberei. Shota, der Junge mit den großen, wachsamen Augen, hat ein Ritual, mit dem er sich auf einen Diebstahl einstimmt: Er lässt seine Zeigefinger umeinander kreisen. Wir werden diese Lockerungsübung noch häufig sehen im Verlauf des Films – und dürfen jedes Mal an ihr unsere Freude haben.
Die heutige Ausbeute ist eher kläglich, das Gespann hat das Shampoo vergessen, auf das Osamus Frau Nobuyo ungeduldig wartet. Sie wird ihn deswegen schelten – er ist kein übermäßig begabter Dieb –, aber das Versäumnis können sie am morgigen Tag nachholen. Auf dem Heimweg entdecken die zwei ein kleines Mädchen, Yuri, das von seiner Mutter auf dem Balkon ausgesetzt wurde und in der Winterkälte bang auf deren Rückkehr wartet. Osamu entschließt sich, ihr erst einmal Obdach zu gewähren in der Wohnung, in der die Familie – es gehören noch die Großmutter Hatsue und ihre Enkelin Aki dazu – auf engstem Raum zusammenlebt. Eine warme Mahlzeit soll Yuris Lebensgeister wecken.
Am nächsten Morgen wollen sie das Mädchen zu seiner Familie zurückbringen, hören dann aber einen Streit der Eltern mit an, der sie zweifeln lässt, ob Yuri dort wirklich erwünscht ist. Zudem ermutigen die Spuren von Misshandlung sie in dem Glauben, die Kleine sei bei ihnen vorerst in besseren Händen. Und Yuri lernt bald, worauf es ankommt. Als Diebin stellt sie sich ausgesprochen geschickt an; sie setzt die elektronische Sicherheitsschranke des Marktes außer Gefecht. Damit ist der Clan der Shibata vollzählig.
Der Film löste Proteste aus
Es ist eine merkwürdige Idylle, in die Koreeda seine Zuschauer einführt. Die Familie lebt in heiterer Verwahrlosung. Offiziell gemeldet ist an ihrem Wohnort nur Hatsue, deren Rente die schmale ökonomische Grundlage der Gemeinschaft bildet, die sie zuweilen aber auch gern in einer Pachinko-Halle verjubelt. Die Mutter hat einen schlecht bezahlten Job in einer Wäscherei, der Vater verdingt sich als Tagelöhner und Aki verdient ein Zubrot in einer Peep-Show.
Trotz der prekären Verhältnisse wird man den Verdacht nicht los, dass die kriminelle Energie der Shibata noch weitere Ursachen hat: Der Diebstahl schafft Komplizenschaft. Koreedas großes Thema ist das Wesen der Familie, die Ambivalenz verwandtschaftlicher Beziehungen, die Bestimmung oder Wahl sein können.
In Japan feierte Koreedas neuer Film nicht nur einen beispiellosen Kassenerfolg, sondern rief auch heftige Polemiken hervor. Der vorurteilslose Blick, den der Regisseur auf das Treiben seiner Charaktere wirft, zog den Zorn der Abe-Regierung auf sich. Der Regisseur wurde der Anstiftung zum Verbrechen bezichtigt sowie der Verunglimpfung der Behörden. Sein Blick auf die sozialen Verhältnisse ist ebenso wehmütig wie zornig: Dieser unbestechliche Humanist schaut auf die Ränder, an denen die Menschlichkeit verloren zu gehen droht. Seine Helden sind blinde Passagiere in einem Sozialstaat, der erst hinschaut, wenn es zu spät ist.
Verherrlicht wird der Zusammenhalt der Familie Shibata nicht. Die freudige Harmonie, die das Filmplakat für ihr Dasein reklamiert, ist keine Lüge, erzählt aber nur einen Teil der Wahrheit. Im Verlauf dramatischer Enthüllungen, die Koreeda mit lichter Gelassenheit inszeniert, kommt heraus, dass die Familienverhältnisse nicht so sind, wie sie erscheinen. In der Nestwärme dieses Refugiums nistet durchaus eine Bedrohung des Kindeswohls. Nobuyo und Osamu verbindet ein düsteres Geheimnis, dessen Aufklärung sie erlösen könnte. Shota, der nun reif genug ist, sich aus der Amoral zu befreien, muss den Verlust der Geborgenheit verwinden. Die Risse, die durch die menschliche Existenz gehen, erzählt Hirokazu Koreeda vorzugsweise im Rahmen eines Zyklus, der sich vollzieht. Hier sind es die Jahreszeiten, der Winter dient als Klammer, die das Davor und das Danach zusammenhält. Seine Figuren gehen ihm dabei nicht verloren: Er vertraut ihnen. Ihre Beweggründe mögen vieldeutig sein, seine Sympathie ist es nicht.
Info
Shoplifters – Familienbande Hirokazu Koreeda Japan 2018, 121 Minuten
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