Flaneure des Weltuntergangs

DOKUMENTE DER ANTEILNAHME Ein Porträt der Fotoagentur "Magnum"

Das Symbol, das auf dem Plakat hinter dem Namen steht, könnte auf den ersten Blick ein Copyright-Zeichen sein (was durchaus einen Sinn ergeben würde). Aber es ist ein Gradzeichen, mit dem sich die Temperatur, aber auch die Längen und Breiten des Globus vermessen lassen. Der Titel Betrachtungen über die Welt kündigt eine Ausstellung von enzyklopädischem Ausmaß und Anspruch an. Und schon der Name der Agentur klingt ehrfurchtgebietend: Magnum.

Die prestigeträchtige Fotografen-Kooperative scheint momentan die internationale und insbesondere die Galerienszene in Berlin-Mitte zu dominieren. Vom Postfuhramt, in dem die Agentur eine Werkschau aus den Jahren nach dem Mauerfall präsentiert, sind es nur wenige Minuten Fußweg, um in der Galerie Le Manège James Nachtweys Kriegsreportagen Civil Wars zu betrachten. Kaum weiter ist es bis zur imago fotokunst, wo der Zyklus Valparaiso des Chilenen Sergio Larrain zu sehen ist. Kurz zuvor hatte noch René Burri in der Nachbarschaft ausgestellt. Und wer Muße hat, kann ein paar S-Bahnstationen entfernt, in Charlottenburg nachvollziehen, wie sich das Werk Herbert Lists nach dem Eintritt in die Agentur verändert hat: seine Straßenfotografien werden bewegter, an die Stelle geometrischer Elemente und statuarischer Akte ist die lebendige, drangvolle Enge von Alltagssituationen getreten.

Der vermeintliche Monopolist in Sachen Dokumentarfotografie ist zwar noch immer ein maßgeblicher Bilderlieferant. Er selbst begreift sich indes in einer Dauerkrise, die Mitglieder kokettieren mit ihrem chronischen Mangel an Geschäftssinn. Die Jahresbilanzen sind seit Gründung der Agentur vor 53 Jahren eine Zitterpartie. Die Agentur kann längst nicht mehr allein vom Verkauf an Zeitungen und Zeitschriften existieren. Zur rechtschaffenen Mischkalkulation gehört neben den hohen Einnahmen durch Industrie- und Werbefotografie (beispielhaft verkörpert von Ferdinando Scianna, der in seinen Modefotos mit der Idee der Deplacierung spielt) eben auch die Ausbeutung des eigenen Mythos. Ikonen wie René Burris Porträt des zigarrerauchenden Che Guevara oder Dennis Stocks Studie von James Dean auf dem verregneten Times Square haben sich als Postkarten- und Plakatmotive unzählige Male verkauft. Die 1988 eingerichtete Kulturabteilung, die Ausstellungen und eine Vielzahl von Buchprojekten organisiert, ist überaus rege: Berlin ist nur eine von vielen Stationen dieser monumentalen Leistungsschau. Mittlerweile trägt das département culturel gut ein Drittel zum Jahresumsatz von rund 20 Millionen DM bei. Nach dem (charakteristisch spät gefeierten) Jubiläum der Gründung scheint der Mythos mächtiger denn je: vom Sammelband Magnum, 50 ans des photographies wurden mehr als 150.000 Exemplare verkauft, vom Folgeband Magnum Cinema immerhin halb so viel; die Ausstellung lockte weltweit eine gute Million Besucher an. Magnum ist ein einträgliches und auch für Sponsoren attraktives Markenzeichen geworden.

Um die Umstände ihrer Gründung gibt es, wie bei jeder Legende, gleich mehrere Varianten. Verbürgt ist immerhin, dass Henri Cartier-Bresson, Robert Capa, George Rodger und David Seymour beteiligt waren und dass eine große Champagnerflasche, der die Agentur ihren Namen verdankt, eine wichtige Rolle spielte. Jeder brachte ein Grundkapital von 400 Dollar ein, um die ersten Reisen zu finanzieren. Cartier Bresson gilt noch heute als das "künstlerische Gewissen" der Gruppe. Doch keiner hat das romantische Bild des abenteuerlustigen Magnum-Fotografen so nachhaltig geprägt wie Capa, der bei seinem Tod nur ein paar Kameras, unbezahlte Rechnungen und Maßanzüge hinterließ. In seinem Diktum "Wenn dein Foto nicht gut ist, warst du nicht nah genug dran!" kündigte sich die unerschrockene Suche nach Unmittelbarkeit und Authentizität der Erfahrung an, die auch für spätere Mitglieder verpflichtend sein sollte. Rasch kamen weitere Teilhaber (darunter Eve Arnold, Inge Morath, Marc Riboud und Dennis Stock) hinzu. Um die eigene Arbeit vor der Willkür von Bildredakteuren und den Sachzwängen des Layouts zu schützen, formulierten die Fotografen Forderungen, die bahnbrechend sein sollten für die Etablierung von Autorenrechten: der Name des Fotografen muss bei jeder Veröffentlichung genannt, die Bilder dürfen nicht beschnitten werden. Das Urheberrecht bleibt beim Fotografen, er tritt es nicht an Verlage und andere Agenturen ab. Die Tantiemen (Magnum behält lediglich 40% der Einkünfte ein), die dank Postkarten-, Plakat- und Buchverkäufen noch Jahrzehnte später fließen, sichern seit jeher die Existenz der Agentur. Sie ist genossenschaftlich organisiert. Die Teilhaber entscheiden demokratisch, wie das gemeinsame Geld angelegt wird und welche korrespondierenden Mitglieder nach einem langen, strengen Auswahlverfahren aufgenommen werden. Die Agentur hält mehr denn je das Image eines erhabenen, exklusiven Zirkels aufrecht, der seine hehren Ansprüche auch angesichts sich wandelnder Zeitläufte nicht kompromittieren will.

Auf die Frage, was Fotografie nach Weltkrieg und Holocaust noch bedeuten könnte, haben ihre Gründer mit einem Prinzipienkatalog geantwortet, der auf einem Ethos unbestechlicher Wahrhaftigkeit und der Achtung vor Menschen, Situationen und dem eigenen Medium beruht. Diese humanistische Tradition begründeten sie bereits mit der Serie People are People für das Ladies' Home Journal, die später maßgeblichen Einfluss auf Edward Steichens Ausstellung The Family of Man haben sollte. Die "Akademie der Reportage", wie sie in Frankreich nicht ohne Ironie genannt wird, versteht sich nicht nur als Geschäftszusammenschluss, ihr Zusammenhalt besteht nicht allein dank gemeinsamer Interessen, sondern vor allem auch Überzeugungen. Der Geist der Gründerzeit ist noch lebendig und verbindlich. Philip Jones Grifftith, der durch seine Vietnam-Reportagen berühmt wurde, formuliert ihn als "Anteilnahme an der Welt", als Wunsch, die Bedingungen menschlichen Lebens "mit soviel Mitgefühl wie möglich" darzustellen.

Angesichts der oft beschworenen Krise der Dokumentarfotografie, deren große Zeit in den frühen 70ern mit dem Niedergang auflagestarker Zeitschriften wie Life (die seit den 30ern leitbildhaft den Fotojournalismus verkörperte) endete, erscheint dies heute vielen Kritikern als anachronistisch. Die Neugier der Nachkriegszeit auf entlegene Orte und fremde Kulturen scheint längst gestillt, vor allem durch das Fernsehen, das seine Bilder aus Kriegs- und Armutsregionen in den Abendnachrichten senden kann, lange bevor die Fotografen ihre Filme überhaupt erst entwickelt haben.

Auf die flüchtigen, aufgeregten Sensationen des Fernsehens reagiert Magnum mit Langsamkeit und Beharrlichkeit. Magnum-Fotografen wie Abbas oder James Towell begleiten ihre Sujets nicht selten jahrelang. Sie stehen nicht in dem Ruf, in ein Krisengebiet zu fahren, dort ein paar aufsehenerregende Bilder zu erbeuten und dann wieder abzureisen. Ihre Bildzyklen spiegeln eine Kennerschaft und Vertrautheit wider, die sich langer Recherche verdankt: einer umsichtigen Schauplatzsuche, einem behutsamen Werben um das Vertrauen seiner Objekte, einem Gespür für den Wandel eines politischen oder sozialen Klimas. Der Blick für die Eigentümlichkeit, Unverwechselbarkeit eines Themas ist auch ein Zeichen des Respekts.

Die Reportagen aus den Krisenherden sind erschütternd, auch wenn man ihr gelegentliches Pathos beargwöhnen mag. Den Vorwurf einer Ästhetisierung des Leidens oder aber einer Unmittelbarkeit, die pornografisch wirkt, entkräften die Bilder augenblicklich. Persönliche Betroffenheit ist in ihnen zu spüren, auch eine verantwortliche Zeugenschaft. Die Magnum-Fotografen setzen sich aus: den Turbulenzen der Zeitenwende nach dem Mauerfall, fremden Realitäten, unschönen Wahrheiten. Ihr Zugriff auf die Umbrüche ist geistesgegenwärtig. Gleichwohl scheren sie regelmäßig aus der Chronik der großen Ereignisse aus. Sie haben den Blick für das kultiviert, was sonst vom Spektakulären verborgen wird, spüren nach, wie das alltägliche Leben beharrlich auch gegen Katastrophen aufbegehrt. Damit öffnen sie den Blick für den Kontext, in dem die Konflikte sich zutragen. So finden in James Nachtweys Civil Wars die Kriegshandlungen ihren Widerhall in den Sequenzen über religiöse Raserei und Hundekämpfe in Afghanistan. Seine Reportage über eine öffentliche Hinrichtung in Kabul folgt einem Montagerhythmus, bei dem regelmäßig Bilder des neugierigen Publikums zwischengeschnitten sind. Fotojournalismus erzählt nicht vom Ereignis, sondern von den Reaktionen. Eine weitere Sequenz hat er den Insassen eines Hospitals für psychisch kranke Kriegsopfer gewidmet und ihren Zustand in die Leere des Bildraums und das Ungleichgewicht der Komposition übersetzt; dunkle Silhouetten von Händen und Gesichtern rahmen die Bilder ein. Wie unterschiedlich die Sichtweisen, wie subjektiv der Blick der einzelnen Magnum-Fotografen ist, offenbart sich im Vergleich mit Chris Steele-Perkins' Aufnahmen von amputierten Kriegsopfern: Nachtwey verwurzelt sie in halbnahen Einstellungen, schafft einen Rahmen für ihre Anstrengungen, sich nun mit Prothesen fortbewegen zu müssen; Steele-Perkins konzentriert sich auf Großaufnahmen, die die Obszönität des Krieges beglaubigen.

Die Ausstellung ist nicht nur eine Marketingveranstaltung, sondern auch ein stolzer Rechenschaftsbericht, der die vitale, unablässige Erneuerung der Agentur belegen soll. Gut ein Drittel der Autoren trat der Agentur erst nach 1989 bei; der Mythos von der Vielfalt der Individualisten wird fortgeschrieben, welche die Freiheit haben, ihre eigenen Themen zu finden und einen eigenen Stil zu entwickeln. Neben den klassischen Genres der Milieustudie und Sozialreportage schließt Martin Parr eine Lücke, der in intensivierten, vulgären Farben das Alltägliche dokumentiert und dabei unsere Konsumwelt erbarmungslos der Lächerlichkeit preisgibt.

Der Konflikt zwischen Reportage- und Kunstfotografie, der die Agentur seit ihrer Gründung begleitet hat, ist auch ein Spannungsfeld in der Kartografie der Ausstellung. Und doch weckt sie den Eindruck, Magnum habe sich sicher im Zwischenraum eingerichtet. Die grellen Farben in den Fotos von Costa Manos, die kalkulierten Kompositionen Bruno Barbeys spiegeln immer auch eine anthropologische Faszination an fremden Kulturen wieder. Die Dominanz des Ornaments, der Lichteinfall, die Schattenrisse und Spiegelungen, welche in den Bildern Gueorgui Pinkhassows die Figuren bedrängen, sind ein gültiger fotojournalistischer Ausdruck irritierender, urbaner Wahrnehmungsfülle. Eines der schönsten Fotos, Steve McCurrys Ansicht von Herat in Afghanistan, scheint gerade noch diesseits der Kitschgrenze zu funktionieren: glühendes Abendrot liegt über dem Ort, einige Menschen scheinen sich an einem Lagerfeuer zu wärmen. Erst auf den zweiten Blick offenbart sich die farbige Kulisse als Trümmerstadt. Die Bilder Josef Koudelkas sind (schon durch ihr extremes Hoch- oder Breitbildformat überwältigende) Elegien. In ihnen herrschen Strenge und Klarheit der Linien, und doch verdichtet sich in ihnen eine Stimmung der Melancholie, des Verlustes. Selbst wenn in den Betrachtungen über die Welt eine Idylle gezeigt wird, wenn ein Magnum-Fotograf einfach nur flaniert, scheint die Welt bedroht.

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