Wenn Filmemacher im klassischen Studiosystem Hollywoods subversive Themen oder ihre persönlichen Obsessionen in ihre Filme einbringen wollten, mussten sie diese Motive in ein standardisiertes Produktions- und Mythengefüge hineinschmuggeln. Im Schutz des Genrekinos, und vor allem auf dem Terrain des Film noir, des düster-pessimistischen Nachkriegsmelodrams, trieben diese Abweichler manchen Schleichhandel, der die Normen unterlief und es ihnen erlaubte, ungewohnte Perspektiven zu wagen und unbequeme Wahrheiten ins Bild zu setzen. Im Fall von Suzhou River ist der Film selbst die Schmuggelware. Er wurde unabhängig und ohne offizielle Genehmigung in Shanghai gedreht, in Berlin geschnitten, in Peking vertont und sodann ins Ausland auf den Parcours der Festivals geschickt. Die zweite Regiearbeit des Chinesen Lou Ye ist in seiner Heimat, trotz internationaler Erfolge, von der Zensur noch nicht freigegeben.
Lou gehört zur Neuen Welle des chinesischen Festlandkinos, der sechsten Generation. Dabei fühlt er sich an keinen Generationsvertrag gebunden, nicht einmal mit der gefeierten fünften und ihren Protagonisten Chen Kaige und Zhang Yimou. Seine Inspiration schöpft er aus dem Bilderfundus des internationalen Kinos und der Clip-Ästhetik. Lou hat den Film Noir genau studiert, kennt seinen Godard, vielleicht auch Cocteau. In seinem wesentlichen Erzählstrang ist Suzhou River ein Remake von Hitchcocks Vertigo. Der Motorradkurier Mardar hat Moudan, der Tochter eines wohlhabenden Schmugglers, einst ewige Treue geschworen: Sollte sie einmal verschwinden, würde er nicht ruhen, bis er sie wiedergefunden hat. Ursprünglich sollte er sie im Auftrag ihres Vaters nur durch die Stadt kutschieren; zumal, wenn dieser eine seiner Geliebten empfängt. Als Moudan dann glaubt, er habe sie im väterlichem Auftrag entführt, wähnt sie ihre Liebe verraten und stürzt sich in die Fluten des Suzhou. Nach Jahren im Gefängnis kehrt Mardar in seine Heimatstadt zurück. Er glaubt, in der Tänzerin Meimei die Geliebte wieder zu entdecken. Sie tritt in einem Meerjungfrauenkostüm in einer Bar auf und ist mit einem Videofilmer liiert. Eine Dreiecksbeziehung bahnt sich an. Aber ist Meimei wirklich die Verlorene?
Es ist rätselhaft, welches chinesische Bilderverbot diese rastlose Elegie brechen könnte. Was sind die unerwünschten Einblicke in eine bedrängte Realität, die ein solch traumverlorener Film bereithalten könnte? Gewiss, chinesische Zensoren mögen scharfsichtiger sein als westliche Kritiker, wenn es darum geht, anarchisches Potenzial aufzuspüren. Dabei hat Lou einfach klassische Motive des Melodrams - Liebesverrat, Verlust, die Sehnsucht, ein idealisiertes Frauenbild in der Realität wiederzufinden - als eine Wette um Lüge und Wahrheit inszeniert. Die Verdopplung ist ein dramaturgisches und visuelles Grundprinzip. Moudan und Meimei werden von der gleichen Darstellerin verkörpert; das Zwiegespräch des Prologs, das abverlangte Liebesversprechen, wird später wieder aufgegriffen; die Montage flirtet mit Wiederholung und Redundanz.
Unweigerlich wird auch das Erzählen selbst zum Thema. Lou ist fasziniert von den Mechanismen des Geschichtenerfindens, von ihrem Fluss und ihrer Struktur, davon, wie sie sich vollenden oder neu beginnen können. Einmal scheint er seine Geschichte mit einer Abblende zu beenden, aber noch bevor die Leinwand ganz im Schwarz versinkt, reicht er unverhofft die erzählerische Stafette weiter. Suzhou River ist eine rauschhafte Stilübung, die Kamera ist sprunghaft und mit fiebriger Nervosität geführt, die Einstellungen sind oft verwackelt oder verkantet. Die Perspektiven kreuzen sich, den Großteil des Films hat Lou gleichwohl dem Blickwinkel des Videofilmers anvertraut. Das verleiht ihm den Charakter eines vertraulichen, melancholischen Tagebuchs. Die Erzählstimme aus dem Off ist die von Lou Ye; den Videofilmer, den wir nie richtig zu Gesicht bekommen, spielt er selbst.
Der Regisseur dieser postmodernen Anmutung ist unbekümmert um die Differenz zu seinen Vorbildern. Die Aura des klassischen Hollywoodkinos, dessen emotionales Inventar überlebensgroß ist, will er gar nicht erst einholen. Seine Figuren sind Chiffren, Objekte des Kamerablicks. Die Diskrepanz zwischen der kinohaften Beschwörung absoluter Liebe und der Leinwandpräsenz der Akteure scheint kalkuliert. Dem jungen Mardar fehlt natürlich die verzweifelte romantische Autorität eines James Stewart. Moudan/Meimei ist eine Figur, die sich entzieht (oft ist sie in Türrahmen, im Weggehen aufgenommen), aber keine rätselhaft entrückte und verwundete Sirene wie einst Kim Novak, sondern vielmehr eine jener entzückend quengeligen Kindfrauen, die uns aus dem chinesischen und dem Hongkong-Kino bestens vertraut sind. Lou Ye findet im Neu-Arrangement, dem Deplatzieren des Vertrauten zu einem eigenen Erzählgestus. Und er setzt berechtigtes Vertrauen in seine zentrale Metapher: den Titel stiftenden Fluss, ein trübes Gewässer, das die urbanen und auch moralischen Verwerfungen der Metropole Shanghai spiegelt. Zugleich ruft er den Fluss auf als Sinnbild für die Bewegung an sich, die die Figuren und Dinge vorantreibt. "Der Fluss erzählt dir alles über das Leben", sagt anfangs der Erzähler. Meerjungfrauen kennt die chinesische Mythologie übrigens nicht. Auch diese Idee hat Lou Ye aus dem Westen eingeschmuggelt.
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