Als Robert Altman 1975 Nashville ins Kino brachte, befand ein Kritiker, uninteressante Hauptfiguren würden nicht dadurch interessanter, dass sie im Dutzend auftreten. Er argwöhnte, die Verknüpfung von Episoden sei nur Gaukelei, da jede für sich allein nicht tragfähig wäre.
Seither hat das Erzählmodell eine erstaunliche Karriere gemacht. Altman selbst hat es vervollkommnet (in Short Cuts), erschöpft (in Prêt-à-Porter) und wiederbelebt (Gosford Park). Die Regisseure von Magnolia, Böse Zellen und Crash haben die Parallelmontage unterschiedlicher Schicksale als Instrument begriffen, die Vielgestaltigkeit der Gegenwart darzustellen. Diesem Erzählprinzip eignet der Hauch einer heroischen Geste - man muss es sich schon zutrauen können, eine derart umfassende Welthaltigkeit im Kino heimisch zu machen.
In Babel gerät die Erzählstruktur gar zu einer Metapher der Globalisierung, ihr Gelingen oder Scheitern trifft eine Aussage darüber, wie die Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts gefügt ist. In Amores Perros und 21 Gramm haben der mexikanische Autor Guillermo Arriaga und der Regisseur Alejandro González Inárritu scheinbar unabhängige Ereignisse nach dem Prinzip der Kettenreaktion in einen Zusammenhang geführt. Nun wagen sie erstmals die Utopie, die Welt als Dorfplatz zu begreifen, auf dem sich die Wege kreuzen. Von der ersten Einstellung, die in der menschenleeren Landschaft des marokkanischen Atlasgebirges spielt, bis zur letzten, die das nächtliche Lichtermeer des dichtbesiedelten Tokio zeigt, schlagen sie souverän ihren erzählerischen Bogen.
Aktuelle Probleme wie Migration und die Angst vor Terrorismus sind zwar durchaus handlungsbestimmende Elemente in Babel. Aber die Zeitgenossenschaft des Erzählentwurfs zeigt sich weniger im Inhalt der einzelnen Episoden - ein Gutteil der Geschichten handelt von zeitlosen Konflikten, von Verlusten in der Familie -, sondern in ihrer Konfrontation. Die vier Geschichten auf drei Kontinenten, die Arriaga und Inárritu verschachtelt erzählen, sind Tragödien der Deplatzierung.
In Marokko verkauft ein Berber seinem Nachbarn ein Jagdgewehr, das er vor einem Jahr von einem japanischen Geschäftsmann als Geschenk erhielt. Bei Schießübungen treffen die Söhne des Nachbarn eine US-Touristin, die gemeinsam mit ihrem Mann auf der Reise den Verlust ihres dritten Kindes verarbeiten will. Da sich ihre Rückkehr nun verzögert, nimmt deren Kindermädchen ihre beiden Schutzbefohlenen über die Grenze zur Hochzeit ihres Sohnes nach Mexiko mit. In Tokio hat sich unterdessen die taubstumme Tochter des Geschäftsmannes nach dem Selbstmord der Mutter vom Vater entfremdet.
Es ist ein heikler Zusammenhalt, den Arriaga und Inárritu herstellen. Die Segmente, die durch eine je eigene Ton- und Farbdramaturgie subtil voneinander abgesetzt sind, kommunizieren indes miteinander. Babel knüpft ein dichtes Netz der Symmetrien und Entsprechungen. Die Montage überträgt dramaturgische Bewegungen, Gesten und Motive von einem Schauplatz zum nächsten und gemahnt so an die Universalität menschlicher Empfindungen. Die Sprache ist hier zwar nicht, wie der auf die Genesis verweisende Filmtitel vermuten lässt, die Ursache aller Missverständnisse. Die Tragik resultiert vielmehr aus kulturellen Prägungen, aus Vorurteilen und Ausgrenzung.
Ist es ein Indiz mangelnder erzählerischer Fürsorge, dass die wohlsituierten Familen in den USA und Japan am Ende zusammenfinden, während die Existenz der marokkanische Familie ebenso wie die des mexikanischen Kindermädchens zerstört werden? Aber während die beiden anderen Episoden sich vergleichsweise konventionell entwickeln, eröffnen gerade die Passagen in Mexiko und Marokko ungleich originellere erzählerische Ausblicke. Die Unfähigkeit des muslimischen Vaters, mit der aufkeimenden Sexualität seiner Kinder umzugehen, das zweifache Schuldgefühl seines Sohnes, der nicht nur die amerikanischen Touristin angeschossen, sondern auch die weibliche Schönheit in Gestalt seiner Schwester entdeckt hat, wären einen eigenen Film wert.
Die umfassende Perspektive dieses Films verdankt sich, vielleicht gar nicht paradoxerweise, einer unbedingten Subjektivität der Wahrnehmung. In dem Maße, in dem Inárritu deren Brüchigkeit Rechnung trägt, gewährt er auch einen Blick auf das soziale Gefälle zwischen den Welten. Die Umwertungen, die regelmäßig stattfinden, folgen dem Renoirschen Prinzip des "Jeder hat seine Gründe": Das Geld, das der Ehemann der verwundeten Touristin dem marokkanischen Reiseführer am Ende anbietet, mag nur eine hilflose Geste sein. Aber die Würde, mit der der Helfer es ablehnt, verleiht ihm seinen Wert.
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