In der Regel ist der Narzissmus eines Regisseurs eine Abweisung des Zuschauers: Eine auf sich selbst fixierte Schaulust lässt wenig Raum für diejenige des Publikums. Sie ist eine Hürde, die die Zuschauer erst nehmen müssen. Dieses Risiko geht Xavier Dolan seit seinem Regiedebüt, der vergnüglichen Zerfleischungsorgie I killed my Mother (2009), die er kaum volljährig inszenierte, offenen Auges ein.
Der Schauspieler-Regisseur filmt sich mit andauernder Neugierde, voller Freude am Anblick des eigenen Gesichts und Körpers. Damit ist er nicht schlecht beraten. Nicht nur weil er tatsächlich hübsch anzusehen ist, sondern auch, weil er seinen Filmen damit eingangs einen engen Rahmen setzt, aus dem er sich fortan befreien muss. Im Erstling war das eine klaustrophobisch enge Mutter-Sohn-Beziehung. Dolans zweiter Film, die listig traumverlorene Dreiecksgeschichte Herzensbrecher (2010), öffnete sich bereits für eine Vielzahl der Perspektiven. In seiner dritten Regiearbeit Laurence Anyways (2012) spielte er selbst nicht mit.
Klingt nach Kinderbuch
Dafür ist nun im vierten Film der Kamerablick lange Zeit auf ihn konzentriert und löst sich erst allmählich ab. Die zwei weiteren Hauptfiguren treten anfangs nur in einer Totalen als Rückansicht oder als bedrohlich dunkler Schattenriss in Erscheinung. Diese Strategie des Vorenthaltens schafft eine Spannung, die tückisch zu dem Genre passt, das das gelenkig selbstverliebte Wunderkind aus Québec diesmal gewählt hat: Sag nicht, wer du bist ist ein echter Psychothriller.
Nach dem urbanen Ambiente seiner vorherigen Arbeiten begibt sich Xavier Dolan auf fremdes, rustikales Terrain. Der Originaltitel Tom à la ferme (Tom auf der Farm) klingt nach einem Kinderbuch, was keine ganz falsche Spur auslegt, zumal auch die Assoziation zu prison ferme, Haft ohne Bewährung, erlaubt ist.
Tom (Dolan) reist aus Montreal zur Beerdigung seines Lebensgefährten Guillaume, der auf einem Bauernhof in der Prärie aufgewachsen ist. Dessen Mutter Agathe (Lise Roy, die Rückansicht in der Totalen) steht in dem Glauben, ihr Sohn sei heterosexuell gewesen, und dessen Bruder Francis (Pierre-Yves Cardinal, der bedrohliche Schattenriss) unternimmt alles, um die Wahrheit darüber vor ihr zu verbergen. Er hat die Legende einer Freundin erfunden und zwingt Tom gewaltsam, sie aufrechtzuerhalten. Nach der Zeremonie will Tom eigentlich sofort die Flucht ergreifen. Aber die Trauer der Hinterbliebenen und die rätselhafte Atmosphäre des Hofs ziehen ihn in den Bann. So leicht wird er von hier nicht mehr entkommen.
Dolan nimmt das Genre ernst, vertraut auf die Zuverlässigkeit von dessen Konventionen und zugleich auf sein eigenes Talent, diese zu variieren. So erzählt Sag nicht, wer du bist auch von der Sehnsucht eines Autorenfilmers nach einem soliden dramaturgischen Sockel. Dolan hat den Film in nur 17 Tagen gedreht und braucht kaum mehr als einen Schauplatz und drei (später kommt kurz eine vierte hinzu) Figuren.
Francis verstellt dem Fremden jede Fluchtmöglichkeit. Tom fügt sich in sein Los, an diesem verwunschenen Ort bleiben zu müssen, hilft auf dem Hof mit und macht sich zum Komplizen der Verdrängungsarbeit. Der Suspense ruht auf der Frage, warum er sich als Geisel nehmen lässt. Die Abgründe, die zwischen den Figuren klaffen, führen sie bei Dolan selten an Scheidewege. Sie bleiben wie Magnete aufeinander bezogen, obwohl die Situation unerträglich ist. Der ruppige Macho Francis verstrickt Tom in eine Reihe sadomasochistischer Konfrontationen, die zwischen Aggression und Lust schillern. Er erlegt Tom eine körperliche Nähe auf, Gefahr und Verlockung in einem. Der Mutter stehen mulmige Überraschungen ins Haus.
Dolans Film würde sich prächtig in einem Doppelprogramm mit Alain Guiraudies pastoralem Schwulenthriller Der Fremde am See machen. Dessen inszenatorische Genügsamkeit überbietet Dolan furios. Während er sich in früheren Filmen an seiner visuellen Vorstellungskraft berauschte, findet der romantische Schwärmer nun zu einer trügerisch klassischen Form. Anstelle der eklektischen Pop-Soundtracks tritt die argwöhnische, dräuende Partitur von Gabriel Yared; die frühere Entfesselung der Primärfarben macht einer spätherbstlichen Entsättigung Platz. Xavier Dolan versucht nicht, ein weiterer Alfred-Hitchcock-Epigone zu werden. Das Genre interessiert ihn nur so weit, wie es Unterströmungen offenbaren kann.
Es empfiehlt sich übrigens, den Filmim Original zu sehen. Der Québecer Dialekt ist ein wunderbar anarchisches Parlando, er klingt wie die Punkversion des melodiösen Französisch.
Sag nicht, wer du bist Xavier Dolan Kanada, Frankreich 2013, 102 Minuten
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