In größter Nähe so fern

Kino Michel Gondry scheitert an der Verfilmung des Romans „Der Schaum der Tage“ von Boris Vian, obwohl er Vian so ähnlich ist
Ausgabe 40/2013
In größter Nähe so fern

Bild: Studiocanal

Während der Stummfilm-Ära kam ein Komiker zu kurzem, leisem Ruhm, der in Frankreich Bricolo, der Bastler, genannt wurde, in Wirklichkeit aber Charley Bowers hieß. Die kleinen Burlesken des Amerikaners bemächtigten sich der Wirklichkeit auf subversive Weise und teilten satirische Seitenhiebe auf die Fordisierung der Arbeitswelt aus. Sie steckten voller verrückter Bilderfindungen: Eine dreiste Maus verscheucht eine Katze mit einem Miniatur-Revolver; unter einer Motorhaube werden kleine Automobile ausgebrütet. Bowers erfand Maschinen, die Alltagsprobleme auf denkbar komplizierte Weise lösen sollten und deren Dynamik am Ende die bürgerliche Ordnung pulverisierte.

Es ist nicht bekannt, ob der französische Romancier und Tausendsassa Boris Vian die Filme von Bowers kannte. Zu seiner Zeit waren sie längst in Vergessenheit geraten, obgleich sie in dem Surrealisten André Breton einen glühenden Verehrer besaßen. Bestimmt hätte auch der Autor von Der Schaum der Dinge Gefallen an ihnen gefunden: Vians Idee des von Fließbandarbeitern geschriebenen Romans könnte durchaus von dem Stummfilmkomiker stammen, renitente Mäuse kommen ebenfalls vor. Sehr wahrscheinlich ist hingegen, dass Michel Gondry mit dem Werk von Bowers vertraut ist, das in den siebziger Jahren wiederentdeckt wurde. Beider Seelenverwandtschaft jedenfalls scheint immens. Für diese zwei stolzen Erben von Georges Méliès ist das Kino vor allem Tüftelei, die man am besten in Handarbeit bewerkstelligt. Auch Gondry hat ein Faible dafür, den Objekten eine Seele zu geben.

Trampolin der Phantasie

Wenn Sie nach dieser in die Filmgeschichte abschweifenden Spekulation den Eindruck gewonnen haben, es brächte mich in einige Verlegenheit, über die neue Adaption von Der Schaum der Tage zu schreiben, kann ich Ihnen nur beipflichten. Ich bin nicht sicher, ob ich Gondrys Film tatsächlich gesehen habe. Bei seinem Kinostart in Frankreich war er noch 125 Minuten lang, die internationale Kinofassung ist hingegen 31 Minuten kürzer. Die Schnitte sind zweifellos ein Versuch der Schadensbegrenzung, nachdem sich Der Schaum der Tage an den französischen Kinokassen als kapitaler Reinfall erwies. Dem Vernehmen nach wurde er gekürzt auf Geheiß von Harvey Weinstein, der die US-Rechte für teures Geld einkaufte. Ob er nach der Amputation eines Viertels seiner Laufzeit noch den Intentionen seines Regisseurs entspricht, ist fraglich.

Den Charme von Gondrys Kino macht ja nicht zuletzt dessen Sinn für das Unmaßgebliche aus. Seiner Lust an phantasievoller Ausschweifung enge Grenzen zu setzen, ist eine Vergeudung dieses eigenwilligen Erzähltalents. Allerdings ist es nicht so, als sei die neue Fassung nur auf die wesentlichen Handlungselemente reduziert. Natürlich steht die Liebesgeschichte zwischen dem Müßiggänger Colin (Romain Duris) und der aparten Chloé (Audrey Tautou) im Mittelpunkt, die eine tragische Wendung nimmt, als in ihrer Lunge eine Seerose heranwächst. Aber sie dient als Trampolin für die magische Vorstellungskraft Gondrys. Er umfängt sie mit einem schwelgerisch erdachten Ambiente, in dem sich rechteckige Räume runden und die Größenverhältnisse stets zur Disposition stehen.

Das Liebespaar reist auf einer mechanischen Wolke, Cocktails werden mit den Tasten eines Pianos gemixt, Metrostationen nehmen bizarr florale Gestalt an, und es kommen technische Geräte aus unterschiedlichen Epochen (auch solchen, die es nie gab) zum Einsatz. Colins Faktotum Nicolas (Omar Sy) entwickelt eine listige Souveränität in der Handhabung animierter Objekte.

Der Fusion Gondry-Vian durfte man mit höchsten Erwartungen entgegenblicken. Schließlich traut man diesem Regisseur zu, auch unverfilmbare Szenen des gewitzt über die Stränge schlagenden Buchs auf die Leinwand bringen zu können. Für beide Künstler ist das Dasein eine Werkstatt, in der sich die Realität poetisch umdeuten lässt. Wer weiß, ob die Idee der haptisch ausradierten Erinnerung in Gondrys Vergiss mein nicht nicht geradewegs auf Vians Roman Das rote Gras zurückgeht, in dem ein Wissenschaftler eine Maschine zur Auslöschung des Gedächtnisses erfindet? Auch zwischen ihnen darf man getrost eine Seelenverwandtschaft konstatieren: die Freude an der Metamorphose und den Argwohn, ob die Dinge nicht vielleicht doch lebendiger sein könnten als die Menschen. Aber gerade aus der Nähe dieser Sensibilitäten erwachsen der Verfilmung erhebliche Probleme. Zumindest in der gekürzten Fassung scheint es, als habe allein schon die Konstruktion eines vollends märchenhaften Universums Gondrys Phantasie gebannt. Die Figuren geraten darüber ins Hintertreffen. Sie bewegen sich nur mehr als Flaneure durch diese Welt. Was ihnen zustößt, wird an die Dekors verwiesen. Chloés Krankheit ergreift von ihnen Besitz; Farbgebung und Lichtsetzung düstern sich zusehends ein, bis der Film ganz in Schwarz-Weiß getaucht ist. Erst im zweiten Teil gewinnen die Gesichter stärkere Präsenz. Das war in dem Film, den Gondry eigentlich gedreht hat, vielleicht schon von Anfang an der Fall.

Der Schaum der Tage Frankreich/Belgien 2013

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