Intim und politisch

65. Berlinale In den eigenen vier Wänden durch die Welt: die Filme im Wettbewerb
Ausgabe 08/2015
Hana Saeidi, die Nichte des iranischen Regisseurs Jafa Panahi, nimmt den Goldenen Bären entgegen
Hana Saeidi, die Nichte des iranischen Regisseurs Jafa Panahi, nimmt den Goldenen Bären entgegen

Foto: Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Obwohl es 2013 zum englischen Wort des Jahres gekürt wurde, hat das Selfie bislang noch keinen wirklich guten Leumund. Je mehr wir dem medialen Narzissmus frönen, desto größer wird die Nachscham darüber. Seit er mit Hausarrest und Berufsverbot belegt ist, verleiht der Iraner Jafar Panahi dem filmischen Selbstbildnis jedoch beträchtliches Renommee.

Die Not, nur sich selbst in den Blick nehmen zu können, hat er nach This Is Not a Film und Pardé bereits zum dritten Mal in eine Tugend verwandelt. Diesmal beschränkt er sich nicht auf das häusliche Ambiente, sondern nutzt die klandestine Freizügigkeit einer Taxifahrt, um Zeugnis davon zu geben, wie es sich unter einem repressiven Regime als Künstler und Privatmensch leben lässt.

Welthaltig waren schon die ersten beiden der iranischen Zensur abgetrotzten Filme. Die gewitzt erschlichene Mobilität ermöglicht ihm nun die Durchdringung unterschiedlicher sozialer Sphären. Der am Samstag an Taxi verliehene Goldene Bär ist eine ästhetisch und politisch hocherfreuliche Entscheidung. Den Preis nahm Panahis im Film hinreißend altkluge Nichte entgegen. In der Synthese aus Pathos, Rührung und Engagement könnte dieser Moment zum Sinnbild der Ära Kosslick werden.

So viel emphatische Gegenwart war im Wettbewerb sonst kaum zu finden. Mehr als die Hälfte der Beiträge versenkte den Blick in vergangene Epochen; oft im Gewand des Kostümfilms, wenngleich selten so töricht wie Werner Herzogs Kolonialidyll Queen of the Desert. Radu Judes bittere Pikareske Aferim! immerhin zeigte historisch gewachsene Mechanismen der Ausgrenzung auf.

Die Vergangenheit warf überdies vielfache Schatten auf die Gegenwart. In Andrew Haighs 45 Years wurden die Gewissheiten einer Ehe durch die Wiederkehr einer verschütteten Erinnerung außer Kraft gesetzt. Die vielstimmige Elegie Under Electric Clouds von Alexei German jr. reflektierte die Erfahrung historischer Zurücksetzung zwei Jahrzehnte nach Zusammenbruch der Sowjetunion und knüpfte metaphernreich an deren Kinotraditionen an. Hellsichtig deduktiv leitete Patricio Guzmáns El botón de nácar die historischen Risse Chiles aus dem Element Wasser ab. Auch der zweite chilenische Beitrag, El Club von Pablo Larraín, handelte von beklemmenden Verdrängungsleistungen, kompromittierte seine interessante moralische Konstruktion – eine Gruppe gefallener Priester, die in komfortabler Festungshaft für ihre Sünden büßen soll, wird mit ihren Vergehen konfrontiert – jedoch durch eine allzu glatte Katharsis.

Archaische Rituale und Geschlechterrollen wurden in Ixcanul, dem ersten guatemaltekischen Wettbewerbsfilm, sowie der albanisch-italienischen Koproduktion Vergine giurata (Regie: Laura Bispuri) aufgekündigt. Body von Malgorzata Szumowskasetzte sich mit einer Krankheit auseinander, die im kommunistischen Polen unbekannt war und erst unter der Tyrannei westlicher Schönheitsideale ausbrechen konnte: Anorexie.

Häufig verdichtete sich der Eindruck, es würden vertraute Geschichten (wie im vietnamesischen Coming-out-Drama Big Father, Small Father and other Stories von Di Phad Dong) an unvertrauten Orten neu erzählt. Wer im Programm nach unverwechselbaren künstlerischen Handschriften suchte, wurde vor allem bei späten Manieristen wie Terrence Malick und Peter Greenaway fündig. Jayro Bustamantes Ixcanul allerdings überzeugte dank seiner rigorosen Kadrage, die die Charaktere präzise in der Landschaft und ihrem sozialen Umfeld verwurzelt. Eleganter als die meisten der preisgekrönten Filme stellte er das Intime in einen politischen Rahmen. Der diesjährige Wettbewerb war, so oder so, eine Lektion in Bescheidenheit.

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