Intime Bekenntnisse derer, die den Mai fast verpasst hätten

Im Kino Mit seiner Verfilmung der "Träumer" von Gilbert Adair wirft Bernardo Bertolucci ein berückendes Schlaglicht auf die Überschneidungen von privatistischer Cinéphilie und revolutionärem Straßenkampf

Als Isabelle und Matt nachts von ihrem Rendezvous zurückkehren, machen sie eine Entdeckung, die ihnen den Atem verschlägt: Mitten auf der Straße sind Trümmer zu einem riesigen Haufen aufgetürmt, halbwegs geordnete, zivilisierte Überbleibsel von Chaos und Verheerung. An einen Scheiterhaufen, der jederzeit entzündet werden kann, gemahnt dieser Anblick. Aber Matt und Isabelle erraten seine Bewandtnis nicht. Sie können nicht wissen, dass dies die Überreste von Barrikaden sind und in Frankreich in diesem Mai 1968 ein Generalstreik herrscht, den auch die Müllabfuhr befolgt.

Sie haben seit Wochen, seit die Cinémathèque Française geschlossen wurde, ihre Wohnung nicht mehr verlassen; Fernsehen zu schauen, verbot sich, da ihre Leidenschaft exklusiv dem Kino gehört. Hat es nicht etwas Erbärmliches, die großen Ereignisse zu verpassen, weil man mit seinen eigenen kleinen Problemen beschäftigt ist? Ist es legitim, sich durch eine private Krise zu drücken, während die Welt in Aufruhr und Umbruch ist? Es hat den Anruch der Vergeudung, einer ausgeschlagenen Verantwortung. Aber in der Erinnerung ist dieser Pariser Mai für viele eine Zeit geblieben, in der sich die Paare getrennt haben. Das glühende, präzedenzlose Engagement bot auch die Gelegenheit zur Ausflucht aus privaten Umklammerungen.

Es liegt gleichwohl eine heroische Aura des Dabeigewesenseins in der nächtlichen Entdeckung des Paares. Ein solcher Kinomoment (als den die cinéphilen Figuren ihn gewiss auch begreifen) trägt das Adelsprädikat eigener Anschauung und persönlichen Erlebens. Die Biographie des Drehbuchautors Gilbert Adair scheint ihn zu beglaubigen: Er war damals in Paris, war wie sein Alter Ego Matt ein eifriger Besucher der Cinémathèque. In Adairs Romanvorlage (die im letzten Sommer in einer durchweg erfreulichen Übersetzung in der Edition Epoca erschienen ist) kommt die Szene freilich nicht vor. Vielleicht, weil sie eben erst im Kino ihren Zauber entfalten kann, vielleicht auch, weil die Annäherung an die eigene Vergangenheit Distanz und Phantasie braucht.

Den Regisseur von Die Träumer, Bernardo Bertolucci, wird eine biographische Bringschuld zurückgeführt haben in diese Epoche. Seine ersten, in Italien ungeliebten Filme wurden von den Cahiers du cinéma hymnisch gefeiert; mit 19 begab er sich in die Obhut von Henri Langlois und wurde ein Stammgast in dessen Cinémathèque Francaise. Im Frühjahr 1968 war er zwar in Rom mit der Dostojewski-Verfilmung Partner beschäftigt, sein Hauptdarsteller Pierre Clementi reiste indes jedes Wochenende heim nach Paris und hielt seinen Regisseur montags auf dem Laufenden. Der Mai hat sich mithin eingeschrieben in seinen Film, die Szene, in der er ausführlich die Herstellung eines Molotowcocktails schildert, bewahrt den Geist der Zeit wie in einer Zeitkapsel.

Es ist verwunderlich, dass sich das Kino des Mai 1968 nur selten unverschlüsselt angenommen hat, wo es sich doch rühmen darf, Auslöser und Kristallisationspunkt der Revolte gewesen zu sein. Zwar sind seinerzeit augenblicklich erregte filmische Traktate entstanden, Roman Goupil hat das Thema aus der Distanz der achtziger Jahre gelegentlich aufgegriffen, Louis Malle und Jean-Claude Carrière haben sich die Pariser Unruhen in Komödie im Mai aus der perspektivischen Brechung der Provinz erschlossen. Damit wäre ein Filmzyklus über die Studentenrevolte allerdings fast schon komplett. Dabei waren die Demonstranten gleichermaßen Kinder der Nouvelle Vague wie die von Che, Marx und Sartre.

Am 10. Februar 1968, einen Tag nachdem der gaullistische Kulturminister André Malraux Henri Langlois entlassen hatte, organisierten Filmemacher die ersten Demonstrationen. Vier Tage später, als Jean-Luc Godard von einem Polizeiknüppel getroffen wurde, drohte der Widerstand bereits, militantere Formen anzunehmen. Zwar gab Malraux den Protesten am 21. April nach und setzte Langlois wieder in sein Amt ein, aber da hatte die Bewegung längst schon an Eigendynamik gewonnen (das Festival von Cannes wurde spektakulär bestreikt) und griff auf die Studenten in Nanterre und anderswo über.

Die Zurückhaltung des Kinos ist umso erstaunlicher, als die Straßenschlachten den Aspekt eines Schauspiels im Widerspiel zwischen Inszenierung und Improvisation besäßen. Auch Adair und Bertolucci entwerfen kein Fresko des Pariser Mai, sie gewähren nur vereinzelt Blicke auf rote Fahnen, dekorativ-kämpferische Graffitis; und erst am Ende entlädt sich die Spannung in einer Demonstration. Der Chronik der kollektiven Erfahrung ziehen sie die einer intimen, kammerspielhaften vor. Ein erotisches huis clos hat Bertolucci aus der Vorlage destilliert, in dem Labyrinth eines Pariser Intellektuellenapartments weiß er zahlreiche ihm teure Motive aufgehoben: den Drang seiner Charaktere, sich selbst in Szene zu setzen, die Verstrickung in Inzest und in Dreiecksgeschichten.

Die Revolte bleibt dabei ein von den Figuren ignorierter atmosphärischer Hintergrund, den die Tonspur gleichwohl achtsam regelmäßig intervenieren lässt. Die Chronologie müssen Roman wie Film ein wenig korrumpieren (die Ereignisse des Februars verlegen sie in den Frühling), um den Traumschlaf ihrer Protagonisten glaubwürdig zu machen.

Die Träumer erzählt von einer ästhetischen und sexuellen Initiation, wie sie sich aus der Perspektive amerikanischer Literatur- und Kinotraditionen nur in Europa bewerkstelligen lässt. Der 19-jährige Matt (Michael Pitt) ist zum Sprachunterricht nach Paris gekommen, aber seine eigentliche Lektion lernt er im Kino. Die lichtscheue Weltteilhabe des Kinogängers lindert seine Einsamkeit. Im Dunkel des Vorführsaals der Cinémathèque wird er Mitglied einer verschworenen Gemeinschaft von Kinoratten, die der Leinwand so nahe wie möglich sein wollen, weil es ihnen unerträglich ist, die Bilder eines Films nicht als erste zu empfangen. Als die Türen der Cinémathèque verriegelt sind und das Leben einen neuen Inhalt bekommen muss, lernt er die Geschwister Isabelle (Eva Green), die sich mit Barett und lasziv im Mundwinkel drapierter Zigarette als Revolutionsamazone in Szene setzt, und deren Bruder Theo (Louis Garrel) kennen, dessen abschätzenden Blicken Matt standhalten muss.

Die gemeinsame Kinoliebe wird zum unaufkündbaren Band des Trios, nachdem sie ihn mit dem Schlachtruf von Tod Browings Freaks - "One of us! One of us!"- unter ihre Fittiche genommen haben. Die aushungernde Cinéphilie versuchen sie nun in der Wohnung der verreisten Eltern mit Pfänderspielen zu stillen, in denen die Kinoerinnerungen zu einer erotischen Initiation werden. Matt, der daheim in San Diego gewiss seine Jugendliebe geheiratet hätte, verliebt sich in beide Geschwister, gerät in den Bann einer androgynen (im Roman zunächst noch stärker homosexuellen) Anziehung, die umso stärker wird, als er merkt, dass sie auch inzestuös verschlungen sind. Es schmerzt fast, beim Lesen des Romans Zeuge zu werden, wie er ihre Freundschaft als unverdientes Privileg begreift und welche Macht das Geschwisterpaar dadurch über ihn gewinnt.

Der Film jedoch löst Matt aus dem Klischee des Arglosen im Ausland. In spielerischen Gesten bezeugt er seine Begabung, Cocteaus berühmte Maxime "Erstaune mich!" zu erfüllen. Die Szene, in der ein simples Gasfeuerzeug in seinen Händen zum Maß aller Dinge wird, ist ein Kabinettstück über das Verhältnis von Objekt und Raum, über Unterschätzung und Bewährung.

Bertolucci hat die Geschwister zwar klug mit Kindern aus der französischen Filmaristokratie besetzt - Eva Greene ist die Tochter der Schauspielerin Marlène Jobert, Louis der Sohn des Regisseurs Philippe Garrel, beide sind ungleich mitreißender als ihre literarischen Vorbilder -, aber Michael Pitt als Matt hat ihrem dünkelhaften Gestus genug amerikanische Klarsicht entgegenzusetzen. Er versucht, die beiden aus dem Verharren in ihrer Umklammerung zu befreien und sich dabei selbst zu befreien. Immer klaustrophobischer mutet ihr Dasein in fröhlicher Verwahrlosung an, bis die Revolution in Form eines Pflastersteins rettend in ihr Refugium eindringt. Das "One of us! One of us!" der Kinoliebhaber muss nun den Platz räumen für den Schlachttruf der Demonstranten, "Dans la rue! Dans la rue!".

Mit Edith Piafs Non, je ne regrette rien lässt Bertolucci schließlich seinen Film über Bildern einer Demonstration ausklingen - ein Moment, dessen bekenntnishaftes Pathos selbst in der ironischen Brechung banal wirken würde. Aber zugleich hat er damit einen prekären Endpunkt gefunden für eine uneingestandene Sehnsucht seiner Figuren: aufzugehen in einer Harmonie, Teil einer Gemeinschaft zu werden.


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