Fast schon hatte sich der alte Mann mit dem Abschied abgefunden, aber nun wird es ihm doch zu viel. Er raucht die erste Zigarette seit 30 Jahren. Seine Großeltern hatten den Kastanienbaum gepflanzt. Aber ihr Enkel hat ihn nun verkauft; womöglich notgedrungen.
Das ganze Dorf teilt seine Trauer. Alle sind sich einig, dass dies ein besonderer Baum war. Es fließen Tränen, Trost muss gespendet werden, eine alte Bäuerin bekreuzigt sich. Die Gemeinde schaut ihm nicht einfach nach, als er abtransportiert wird, sondern folgt ihm. Es ist ein zutiefst surreales Bild, wie sie ihm das letzte Geleit geben.
Die Kastanie wird, zu Land und zu Wasser, einer merkwürdigen Bestimmung zugeführt. Sie soll neu verpflanzt werden im dendrologischen Park des Milliardärs Bidsina Iwanischwili, der 40 Kilometer entfernt an der georgischen Küste liegt. Seit einigen Jahren schon schickt der ehemalige Staatspräsident Kundschafter ins ganze Land aus, die besonders imposante Bäume für ihn ausfindig machen sollen. Er kann sich dieses kostspielige Steckenpferd leisten. Sein geschätztes Vermögen ist so hoch wie ein Drittel des georgischen Bruttosozialprodukts. Bestens vernetzt ist der Plutokrat nach wie vor.
Obsessive Baumverehrung
Die Dokumentarfilmerin Salomé Jashi wurde auf seine bizarre Baumverehrung aufmerksam, als Aufnahmen eines 650 Tonnen schweren Tulpenbaums durch die Medien gingen, der eingeschifft wurde. Dieses Bild war für sie eine Störung des Realen, etwas, „das ich niemals hätte sehen dürfen“. Die Bilder, in die sie nach zweijähriger Drehzeit ihre Betroffenheit gefasst hat, sind nicht weniger eindrucksvoll. Derlei bizarre Deplatzierungen kennt man nur aus alten Hollywoodkomödien, in denen Millionäre sich europäische Schlösser kaufen, um sie daheim wieder aufbauen zu lassen.
Wie soll man den Beruf nennen, den die Arbeiter auf Geheiß des Milliardärs ausüben? Gehört er dem Transportwesen oder der Forstwirtschaft an? Sie haben Erfahrung, wissen sich an besondere Exemplare zu erinnern, deren Wuchs sie faszinierte, natürlich an den Tulpenbaum, aber auch an eine Magnolie, eine Zypresse, auch an eine imposante Linde. Sie haben durchaus einen Blick für deren Anmut. Aber für die Verwüstung, die ihr schweres Gerät hinter sich zurücklässt, haben sie keinen. Die Flächen, die sie ausgehoben haben, sind so groß wie Felder. Als logistische Leistung sind die Transporte in der Tat beeindruckend. In sie fließen enormer Sachverstand und Fantasie ein. Man schaut einem technischen Fortschritt zu, der natürliche Hindernisse souverän überwindet. Nichts stellt sich Iwanischwilis Trupps lange Zeit in den Weg. Sie schlagen Schneisen in Wälder, fällen störende Bäume an Straßenrändern und montieren Stromleitungen ab.
Jashis Inszenierung ist gleichsam minimalinvasiv. Sie beobachtet mit einer Geduld, die ebenso offen wie zielstrebig ist. Sie lässt die Situationen wachsen. Sie entlockt den Menschen keine Statements, sondern hört ihnen zu, wie sie sich einen Reim auf die Vorgänge machen. Einmal bleibt ein Interieur ganz im Dunkeln, weil die Sprechenden nicht erkannt werden wollen. Nicht einmal bei den nächtlichen Arbeiten setzen die Kameraleute zusätzliches Licht, in der Schwärze der Einstellungen blitzen nur die Taschenlampen der Arbeiter auf. Jeder Aspekt dieses absonderlichen Geschehens ist Jashi wichtig. Jedes Bild ist ein stummes Klagelied, das jedoch kein Pathos entwickeln muss, sondern auf die Einbettung in den erzählerischen Fluss vertrauen kann. Eingangs geht mit jedem Bildschnitt auch ein Tonschnitt einher. Die Szenerien wechseln, dürfen aber ihre je eigene Stimmung entfalten.
Jashi verzichtet auf einen Off-Kommentar und auf erklärende Nachrichtenbilder; Chorgesänge setzen sporadisch machtvolle Akzente. Das einzige Expertenwissen stammt von den Betroffenen selbst, der Landbevölkerung. Ihre Vermutung, die Bäume werden in der Fremde nicht überleben, ist nicht wissenschaftlich, sondern lebensgeschichtlich fundiert. Für sie waren die entfernten Bäume Daseinsbegleiter. Sie waren meist schon gepflanzt, als sie geboren wurden. Sie haben viel mitgemacht, ihr Schicksal geteilt und gemeinsam mit ihnen der Witterung getrotzt. Die Überlegungen der Menschen sind ökologisch, ohne dass sie dieses Wort im Munde führen würden: Was wird aus den Vögeln, die im Geäst nisteten?
Wut, aber kein Widerstand
In Artikeln erscheint Iwanischwilis Vorhaben als ein einziger böser Siegeszug. Falls es potenzielle Baumverkäufer gab, die sich ihm verweigerten, werden sie nicht erwähnt. Auch im Film regt sich Wut, aber kein Widerstand. Die eigene Machtlosigkeit ist hier seit Generationen ein existenzieller Argwohn. Nicht jeden stören die tiefen Wunden, die Iwanischwilis Projekt hinterlässt. Er baut immerhin neue Straßen für sie. Über das Geld, das sie erhalten haben, schweigen sich die Baumverkäufer aus. Die Beträge werden beträchtlich gewesen sein; zumindest aus ihrer Sicht.
Ohne dass der Film es nachdrücklich ausstellen muss, verdichtet sich Die Zähmung der Bäume zum Soziogramm eines Landes, das die postsowjetischen Verwerfungen nur schlecht verwunden hat. Über die Beweggründe des Milliardärs gibt Jashi keine Auskunft. Die Spekulation liegt ihr fern, auch in diesem Punkt zieht sie es vor, zuzuhören. Einmal heißt es, in der Zeitung habe gestanden, er wolle sich mit seinem Baum-Park ein ewiges Leben erkaufen. Der Baum als Symbol des Ewigwährenden: Da treffen Alltagsskepsis und Mythologie aufeinander. Die althergebrachte Symbolik des Gartens als Hort der Lebensentfaltung, die der Originaltitel Taming the Garden ins Spiel bringt, beschwört Jashis Film nicht, sondern macht sie greifbar in seiner Zerstörung.
Die Zähmung der Bäume Salomé Jashi Schweiz, Deutschland, Georgien 2021, 86 Min.
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