Im Kino und in der Literatur ist das Shanghai der dreißiger und vierziger Jahre zu einem mythischen Ort der Moderne geworden; zumindest aus westlicher Sicht. Es gilt als kosmopolitische Stadt, in der östliche und westliche Kultur eine gedeihliche Koexistenz eingingen. In dieser weltoffenen Atmosphäre fanden ökonomischer und politischer Ehrgeiz ebenso wie Vergnügungssucht ungeahnte Möglichkeiten. Als das Paris Asiens wurde die Stadt vor der japanischen Besatzung gefeiert (es gab über 400 Nachtclubs) und diente den Expatriierten aus aller Welt als durchaus mondäner Zufluchtsort.
Shanghai war seinerzeit auch das Zentrum der chinesischen Filmproduktion: drei Viertel aller Filmfirmen waren dort angesiedelt. Die zeitgenössischen Produktionen sparten westliche Charaktere zwar weitgehend aus, der Einfluss des Okzidents blieb jedoch als thematische Grundierung (in der Adaption der Konventionen des Hollywood-Melodrams) wie als urbanes Ambiente sichtbar. In den letzten Jahrzehnten haben chinesische Regisseure wie Stanley Kwan und Hou Hsiao-hsien dem Kino eine chinesische Perspektive auf diesen schillernden Ort zurückerobert und dabei doch entdeckt, dass sein Wesen das einer Kolonialstadt ist.
Der in Taiwan geborene und in Hollywood erfolgreiche Ang Lee ist schon allein biographisch ein Grenzgänger zwischen den Welten. Sein neuer Film spielt in den Anfangsjahren der japanischen Besatzung, von 1938 bis 1942. Von der ersten Einstellung an, dem Schwenk von den wachsamen Augen eines Schäferhundes zu denen eines japanischen Wachpostens, evoziert er die Atmosphäre einer Stadt im Belagerungszustand. Die Weltoffenheit ist getilgt, überall verlaufen Demarkationslinien. Nur im Kino hat der westliche Einfluss ein letztes Refugium gefunden. Lee hat eine Novelle der chinesischen Autorin Eileen Wang verfilmt, greift dabei allerdings auf ein zentrales Motiv der angelsächsischen Shanghai-Literatur zurück: das Erproben des Lebens. Shanghai erscheint dort als ein Spielfeld westlicher Identitätssuche. Begierde und Gefahr knüpft einerseits an J.G. Ballards Roman Das Reich der Sonne, der sich die unbegreiflichen Verheerungen des Krieges über das spielerische, kindliche Begreifen erschließt, und darüber hinaus an Kazuo Ishiguros Als wir Waisen waren, in dessen Zentrum das Einstudieren einer gesellschaftlichen Rolle steht.
Die Studentin Wang Jiazhi (Tang Wei) schließt sich 1938 in Hong Kong einer Theatertruppe an, die ein patriotisches Stück aufführt. Bei der Premiere zeigt sich ihr unverhofftes Talent, das Publikum zu überzeugen und mitzureißen. Der Regisseur will es bei der theatralen Agitation nicht bewenden lassen. Er fordert das Ensemble auf, sich dem Widerstand anzuschließen und den Kollaborateur Yi (Tony Leung) unschädlich zu machen. Dabei fällt Wang die Hauptrolle zu. Sie soll Yi verführen, ihn dazu verleiten, sich mit ihr an einem ungeschützten Ort zu treffen. Dazu muss sich das junge Mädchen eine erotische Weltläufigkeit erwerben, die es bislang nicht besitzt. Geschickt wechselt das Drehbuch hier zwischen gegensätzlichen Erzähltönen. Wangs erotische Schulung entbehrt nicht einer gewissen Situationskomik. Aber sogleich verleiht Lee ihrer Entjungferung eine sarkastische Vergeblichkeit, als Yi nach Shanghai versetzt wird, und gibt der Situation schließlich eine tragische Wendung, als ein Leibwächter Yis hinter die Verschwörung kommt und von den Widerständlern getötet werden muss, in einer kläglichen, bestürzenden Generalprobe für das geplante Attentat.
Drei Jahre später wird der Plan in Shanghai erneut aufgegriffen. Wang nimmt wieder ihre falsche Identität als Frau eines Geschäftsmannes an. Diesmal gelingt es ihr tatsächlich, mit ihm eine Affäre einzugehen. Die expliziten Liebeszenen spielen eine zentrale Rolle im Film, die freilich weniger spekulativ ist, als es die verweigerte Jugendfreigabe in den USA und ihre Kürzungen für den chinesischen Markt vermuten lassen. Lee gibt ihnen eine Vieldeutigkeit, sät einen Zweifel, der jedes voyeuristische Vergnügen unterläuft. In ihren sadomasochistischen Spielen offenbaren sich Wang und Yi auf eine Art, die ihnen sonst verwehrt bleibt. Von Yis Tätigkeit als Folterer erfährt man nicht mehr, als diese Szenen preisgeben. Aber in der Kollision von Macht und Unterwerfung, Hingabe und Beherrschung finden beide zugleich eine gemeinsame Sprache. Eine zunächst kaum merkliche Anziehung entwickelt sich zu einem fest geschlossenen Pakt. Aber ist er so stark, dass Wang Verrat üben wird an ihrer patriotischen Pflicht?
Ang Lee scheint sich mit jedem Film neu erfinden zu wollen. Seiner Karriere hat er Kontinuität vor allem dadurch verliehen, dass er ihr regelmäßig eine neue Richtung zu geben verstand. Diese Geschmeidigkeit legte bislang den Eindruck nahe, er sei frei von lastendem stilistischem Eigensinn; derart leichtfüßig vollzog er die Registerwechsel. Die je neuen Genres, die er in Angriff nahm, hat er dafür genau studiert. Für den Spionagethriller Begierde und Gefahr hat er, was naheliegend ist, vor allem bei Hitchcock gelernt. Dessen Verdacht war während der Besatzung der erfolgreichste Film in den Kinos von Shanghai; das Publikum mochte seine eigene Situation in dessen Klima von Duplizität und trügerischer Nähe wiederfinden. Die Handlung evoziert freilich noch stärker Berüchtigt, wo Ingrid Bergman zu Spionagezwecken die Liebe eines Nazis erringen muss. Der Mord an dem Mitwisser schließlich zitiert eine Szene aus Der zerrissene Vorhang, die demonstriert, wie schwer es sein kann, einen Menschen zu töten.
Bei aller Vielseitigkeit weist sein Oeuvre jedoch einen starken inneren Zusammenhang auf. Im Zentrum von Filmen wie Das Hochzeitsbankett, Hulk und zuletzt Brokeback Mountain stehen Charaktere, die ihre wahre Natur entdecken und versuchen, sie gegen die Konventionen der Gesellschaft ausleben. Mit Begierde und Gefahr wagt er sich auf ein prekäres, unübersichtlicheres Erzählterrain. Wangs emotionaler und moralischer Parcours ist ihr auferlegt, ihre Motive und Gefühle bleiben ihr selbst lange Zeit verschlossen. Diese innere Zerrissenheit überführt Lee in einen weit gespannten erzählerischen Bogen, bei dem sich die Zeitläufte in einem erotischen Kammerspiel spiegeln sollen.
Dieses Schillern zwischen historischen Panorama und intimer Konzentration inszeniert Lee in einem dezidiert entschleunigten Rhythmus. Er lässt sich Zeit, das Antlitz und die Rituale einer vergangenen Epoche akribisch zu rekonstruieren. Den diesjährigen "Goldenen Löwen" hat sein Film in Venedig wohl vor allem dieser Sorgfalt wegen erhalten. Als Yi einmal zu Wang sagt "Wenn man aufmerksam ist, gibt es nichts Belangloses", formuliert er damit zugleich das ästhetische Konzept des Regisseurs: Alles ist kunstvoll drapiert mit zeitgenössischen Details, die eine Spur auslegen zu den Charakteren. Wenn sich erst einmal die Erregung über die "gewagten" Liebesszenen gelegt hat, wird man Begierde und Gefahr wohl vor allem im Gedächtnis behalten als einen Film, in dem ausgiebig Mahjong gespielt wird.
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