Mutter ist eine Bastion

Film „La Vérité“ fragt, ob schlechte Schauspieler die besseren Eltern sind
Ausgabe 10/2020

Irgendwann einmal, als sie es müde sind, einander zur Rechenschaft zu ziehen, stehen Fabienne und ihre Tochter Lumir am Fenster und blicken in den Garten hinaus. Die Bestandsaufnahme ihrer Leben setzen sie fort, nun aber gelöst, fast friedvoll. Sie tauschen Indiskretionen aus; zumindest empfindet man es in diesem Moment so, weil sie bis dahin Distanz zueinander hielten.

Lumir (Juliette Binoche) räumt schelmisch ein, dass ihr Mann Hank ein besserer Liebhaber als Schauspieler sei. Ihre Mutter (Catherine Deneuve) kontert, ihr jetziger Ehemann sei ein besserer Koch. Hirokazu Koreeda filmt diesen Augenblick mit sichtlicher Genugtuung. Er hat Freude an der vergnügten Abschätzigkeit ihres Dialogs, denn er lässt die zwei Kontrahentinnen unverhofft zu Komplizinnen werden, markiert ihre Bereitschaft, sich Gemeinsamkeiten zurückzuerobern. Fabienne ist überzeugt, dass zwei Qualitäten mehr sind, als man zum Leben braucht. Sie zog es vor, eine gute Schauspielerin zu werden und eine schlechte Mutter; sie nahm dafür die Konsequenz in Kauf, dass das Publikum ihr verzeihen würde, die Tochter jedoch nie. Hank (Ethan Hawke), der währenddessen im Garten mit der gemeinsamen Tochter spielt, bestätigt auf diese Weise wie selbstlos ihre Vermutung, dass unterbeschäftigte Schauspieler die aufmerksameren Eltern seien.

Lumir und ihre Familie sind aus den USA nach Paris gereist, um das Erscheinen von Fabiennes Memoiren zu feiern. Deren Titel La Vérité ist trügerisch, wie die Tochter beim Lesen bald feststellen muss. Scharf, aber zunächst erfolglos, rechnet sie mit den Lebenslügen der Mutter ab. Deneuve spielt die Diva mit bewährter Ungezwungenheit als eine Bastion der Selbstgewissheit; ihr Urteil über die anderen kommt ohne den Filter der Höflichkeit oder Empathie aus. Man versteht sofort, weshalb die Franzosen ihre Leinwandlegenden monstres sacrés nennen! Binoche ist ihr in diesem Duell eine ebenbürtige Gegenspielerin: Lumirs Lebenstauglichkeit ist eine scharfe Klinge. Als Fabiennes Agent jedoch nach Jahrzehnten aufopferungsvoller, ungedankter Treue plötzlich kündigt, steht sie der Mutter zur Seite. Fabienne ringt mit ihrer schwierigen Rolle in einem Science-Fiction-Film, der das Motiv einer fliehenden Mutter auf vertrackte Weise variiert.

Das Drehbuch besteht natürlich darauf, dass die Festung erschüttert und vielleicht sogar eingenommen wird – aber ohne dass Fabienne dies, so viel Reverenz erweist Koreeda dem Mythos Deneuve, als Eingeständnis der Schwäche empfinden muss. Dies gelingt trefflich dank jener agilen, erhabenen Heiterkeit, mit der dieser Regisseur den Konfliktreichtum und die Doppeldeutigkeit von Familienbeziehungen zu erkunden weiß. Sein erster im Ausland gedrehter Film ist ein Kammerspiel, das den Drehort Paris entschlossen in den Hintergrund verweist. Éric Gautiers lyrische Kameraführung unterstreicht das tschechowsche Flair dieser Komödie, die von Verlust und den Fallstricken der Erinnerung handelt.

Trotz seiner Starbesetzung ist La Vérité ein vielstimmiger Film. Die Bescheidenheit, mit der Ethan Hawke sich auf seine tragende Nebenrolle einlässt, ist bewundernswert. Als Fabiennes Agent ist Alain Libolt eine stille Sensation des Films: der diskrete, vornehme Sockel, auf dem ihre Existenz ruht. Die temperamentvollste Stimme indes gehört Clémentine Grenier, die die (Enkel-)Tochter Charlotte verkörpert. Kaum ein anderer Gegenwartsregisseur filmt Kinderdarsteller so gut wie Koreeda, mit dem richtigen Abstand und ohne ihnen erwachsene Worte in den Mund zu legen. Charlotte nimmt das fremde Reich der Großmutter magisch wahr. Sie glaubt an den Zauber der Verwandlung, den die Erwachsenen erst noch entdecken müssen.

Info

La Vérité – Leben und lügen lassen Hirokazu Koreeda Frankreich/Japan, 106 Min.

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