Nachts im Kaufhaus

Kino In Bertrand Bonellos Film „Nocturama“ führt der Terror in die Abgründe der Schaulust. Zum Werk eines eigenwilligen Regisseurs
Ausgabe 20/2017

Die Organisation der Stadt kehrt sich gegen sie. Warum sollte es ihr anders ergehen als den Demokratien, die ihre eigenen Feinde erschaffen? Urbanität ist der Nährboden und wird zur Bühne ihrer Zerstörung. Ihre Topografie ist akribisch vermessen, eine Abweichung vom Fahrplan der Metro will sich dieser Film nicht gestatten.

Zielstrebig nähern sich die blutjungen Attentäter ihren Zielen. In ihrem Gepäck haben sie Sprengstoff, eine Pistole und eine gehörige Portion Naivität. Mit kaltblütiger Entschlossenheit führen sie ein Ballett der Verwüstung auf, dessen stille Virtuosität an die Kriminalfilme von Jean-Pierre Melville erinnert. Die Glieder dieser Kette greifen unfehlbar ineinander; nur zweimal verdickt sich kurz der Zeitfluss in Rückblenden. Das nimmt dem Spektakel nichts von seiner Dringlichkeit, zumal die Ziele der Anschläge plausibel gewählt sind: das Innenministerium, die Börse, der Sitz eines weltweit operierenden Konzerns (der im Film „Global“ heißt und in Wirklichkeit dem Multi Total gehört) und eine Statue von Jeanne d’Arc.

Bertrand Bonello und seine Protagonisten nehmen das Paris der Monumente und nationalen Symbole in dem Blick; einmal wird Hector Berlioz’ Requiem aufgerufen, das zur Einweihung der Bastille-Säule entstanden ist. Die Attentäter sind indes keine Dschihadisten, sondern eher Nachfahren der Anarchisten des 19. Jahrhunderts. Die Truppe ist ethnisch heterogen, also sehr französisch. Zur Stigmatisierung taugt sie nicht. Peripherie und Zentrum verschmelzen, Kinder aus Migrantenvierteln machen gemeinsame Sache mit einem Krawattenträger, der andernfalls auf die Eliteschule ENA gegangen wäre. Bonellos Darsteller, die größtenteils keine Vorgeschichte im französischen Kino haben, konnten sich mit den Ideen, nicht aber der Gewaltbereitschaft ihrer Figuren identifizieren. Nach ihrer Ansicht fehlte auf der Liste der Ziele noch ein Medienkonzern. Bonello besserte sein Drehbuch nach und baute eine Dialogzeile über Facebook ein.

Die Mischung aus Empathie und Abstand, mit der er seine Charaktere betrachtet, ließ Nocturama in Frankreich zu einem unwillkommenen Film werden. Der Regisseur trug sich mit dem Projekt seit 2010, wollte es nach seinem ersten Kostümfilm Haus der Sünde realisieren. Dann kam die Auftragsarbeit Saint Laurent dazwischen, Bonellos kommerziell erfolgreichster und keineswegs uninteressantester Film.

Flair von Dekadenz

Nach diesem Intermezzo geriet das Projekt in die Geiselhaft der Aktualität. Das Drehbuch legte er im Januar 2015, vier Tage nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo, der nationalen Filmförderung CNC vor. Es wurde auch bei der zweiten Einreichung abgelehnt. Dennoch kam die Finanzierung zustande, die Dreharbeiten begannen im Sommer. Als Bonello den Film im November schnitt, fanden die Anschläge auf das Bataclan und weitere Ziele in Paris statt. Die Täter entsorgten ihre Mobiltelefone ebenso wie Bonellos Figuren in öffentlichen Mülleimern. Vom Festival in Cannes wurde der Film kurzfristig abgelehnt, mit widersprüchlichen Begründungen (es gab Gerüchte um Attentatsdrohungen).

Dem Kinostart ging das Lastwagen-Attentat in Nizza am französischen Nationalfeiertag voraus. Ursprünglich sollte der Film Paris est une fête heißen, in Anlehnung an Hemingways Buch, was nicht mehr in Frage kam, als dies zum Motto der demonstrativ lebensfrohen Rückgewinnung der Stadt wurde.

An den Kinokassen war Nocturama ein kapitaler Misserfolg. Er ist nicht der Film der Stunde, liefert keine der Antworten, deren das traumatisierte Frankreich bedarf. Die Täter werden von keiner Psychologie dingfest gemacht, ihre Motive bleiben atmosphärisch: im Sinne eines angespannten gesellschaftlichen Klimas. „Das musste einfach mal passieren“, sagt eine Passantin, die als ein griechischer Chor fungiert (ein niederschmetternder, brillant kalkulierter Kurzauftritt von Adèle Haenel). Bonello zog mit Nocturama in konservativen wie linken Kreisen den Vorwurf auf sich, verantwortungslos zu sein, Terrorismus cool aussehen zu lassen.

Es wäre allerdings absurd, von diesem Regisseur zu erwarten, er würde eine Moral ziehen. Er ist ein Ästhet, der neugierig abwartet, an welche Abgründe ihn seine Schaulust führt. Nur sieben Filme hat er in knapp 20 Jahren gedreht, die nur sporadisch in unsere Kinos kamen: Sein Debüt Alchimie der Liebe (1998) lief im Panorama der Berlinale, Der Pornograph startete 2002, Haus der Sünde ein Jahrzehnt später. Zusammen mit der delirierenden Biografie Yves Saint-Laurents (am 31. Mai auf Arte zu sehen), die im Gegensatz zum „offiziellen“, autorisierten Biopic von Jalil Lespert Leben und Epoche nicht dekorativ, sondern ästhetisch rekonstruiert, formieren sie sich zum Bild eines Dandys in der Nachfolge Charles Baudelaires. Dieses Flair von Dekadenz ist nur der Weg, nicht das Ziel.

Erschöpfung und Ohnmacht

Tatsächlich stellt der 1968 geborene, mit der verratenen Revolution aufgewachsene Regisseur regelmäßig die Frage, wogegen seine Generation aufbegehren sollte. In Der Pornograph wirft sie der entfremdete Sohn eines Regisseurs auf, der nach dem Pariser Mai voller Idealismus in die damals nicht gänzlich misogyne Pornobranche einstieg. Bonellos Werk ist heimgesucht von der Idee des Doubles (eines seiner unverfilmten Drehbücher erzählt Vertigo aus der Perspektive der Kim-Novak-Figur) und damit der Ambivalenz.

Zweideutigkeit ist in Nocturama auch ein Strukturprinzip: Der zweite, elegischere Teil spielt in einem Warenhaus, in dem die Attentäter den nächsten Tag unentdeckt abwarten wollen. Diese Nachtwache dürfte, wären Bonellos Anarchisten konsequent in ihrem antikapitalistischen Furor, nur ein Waffenstillstand sein. Sie sind aber auch arglose Hedonisten, modebewusst und markenorientiert. Kühl und verführerisch sind die Waren drapiert; einmal mehr gewinnt die sichtbare Welt bei Bonello eine hypnotische Kraft. Die Eindringlinge zerstören nicht, sondern wählen Produkte aus. Sein zentrales Bild findet der Film, als einer der Jugendlichen einer Schaufensterpuppe gegenübersteht, die das gleiche T-Shirt trägt.

Aber nur beinahe folgt diese dramaturgische Bewegung der islamistischen Logik, dem Attentäter stünde das Paradies offen. In der Nacht erfüllen sich hier zwar Kinderträume von unmittelbarer Verfügbarkeit. Das Kaufhaus, diese unter einem Dach konzentrierte, perfekte Nachbildung einer unvollkommenen Welt, ist jedoch zugleich ein verwunschener, furchterregender Ort. Das Refugium hat keine Fenster, bietet keine Anbindung an die Gesellschaft. Hier kann die Revolte nur in Ohnmacht münden.

Info

Nocturama Bertrand Bonello F/D/BEL 2016, 130 Minuten

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