Sing mein Lied

Kino Ian McEwans „Kindeswohl“ ist bei Regisseur Richard Eyre in guten Händen
Ausgabe 35/2018

Die britische Gerichtsbarkeit hat eine kurios theatrale Seite. Ihr eignet ein Pomp, der sich auf jahrhundertealte Traditionen beruft. Die ehrenwerten Richter und die Anwälte sind in schwarze Roben gekleidet und tragen altertümliche, schlecht sitzende Perücken. Sie kennen die Rolle, die sie hier zu spielen haben. Die Angeklagten, streitenden Parteien sowie die geladenen Zeugen hingegen müssen erst in sie eingeweiht werden.

Das Dekor dieses Schauspiels ist auf Einschüchterung ausgelegt, was von dem Synonym unterstrichen wird, das im Englischen gebräuchlich ist für den Gerichtshof: the bar. Die prozessierenden Parteien müssen vor einer Barriere für ihre Sache eintreten, das Recht wird hinter einer Schranke gesprochen. Dieses Bühnenbild, das aus vielen Filmen und TV-Serien vertraut ist, weist den Richtern eine entrückte, souveräne Warte zu.

Kindeswohl eröffnet dem Zuschauer einen verblüffenden Blick hinter diese Kulisse. Der High Court in London ist eine exklusive Welt, deren Architektur auf Unverzüglichkeit besteht. Das Büro der Familienrichterin Fiona Maye (Emma Thompson) liegt nur wenige Schritte von dem Gerichtssaal entfernt, in dem sie schwerwiegende Entscheidungen treffen muss. Ihr bleibt keine Zeit, sich für ihren Auftritt zu sammeln, bevor sie die Tür auf der gegenüberliegenden Flurseite öffnet – und der Zuschauer unversehens eintritt in die tückischen Familiendramen, über deren Ausgang sie urteilen muss.

Der Fall, der im Zentrum des Films steht, konfrontiert sie mit einem Dilemma, dessen Lösung keinen Aufschub duldet. Die Eltern des 17-jährigen, an Leukämie erkrankten Adam (Fionn Whitehead) verweigern die Zustimmung zur lebensrettenden Bluttransfusion. Als Zeugen Jehovas handeln sie aus einer religiösen Überzeugung heraus, die auch ihr Sohn teilt. Zwar beharrt Fiona darauf, dass vor Gericht nicht Moral, sondern Recht verhandelt wird. Aber diesmal weicht sie vom üblichen Prozedere ab. Trotz des Zeitdrucks entschließt sie sich, die Verhandlung zu unterbrechen und Adam im Krankenhaus anzuhören. Dessen innere Reife und lebhafter, kluger Eigensinn beeindrucken sie tief. Das Rechtsgut des Kindeswohls bekommt ein lebensbejahendes Gesicht. Er hat angefangen, Gitarre zu lernen, und animiert die Richterin, gemeinsam ein Lied zu singen. Für einen Moment verlässt der Film den Boden rationaler, beherrschter Dramatik, auf dem er sich bisher einrichtete, sein Erzählton wirkt gelöst, fast träumerisch.

Ian McEwans Prosa ist stets eine Wette zwischen Form und Gefühl. Sie nähert sich dem emotionalen Aufruhr der Figuren mit einer sachlichen Rationalität, die auf Widerspruch hofft. Ihre Eleganz ist kompetent: Das Justizmilieu wirkt akribisch recherchiert, wird angereichert mit erstaunlichen Details (wie etwa die „Tournee“, die Richter der Krone regelmäßig durch ihren Gerichtsbezirk unternehmen müssen) und einnehmenden Nebenfiguren wie Fionas Sekretär, den Jason Watkins als Inbegriff verschwiegener Loyalität verkörpert.

Die Eltern hätten ihn geopfert

Emma Thompson hat sichtbares Vergnügen an der Klarheit der juristischen Sprache, die dem Leben gerecht werden will, es aber nie ganz einhegen kann. Sie versteht den Prunk dieser Welt und ist wachsam für die wehmütige Ironie, mit der McEwan die Berufe seiner Hauptfiguren zeichnet. Die Ehe der Familienrichterin mit dem Philosophiedozenten Jack (Stanley Tucci) steckt in einer tiefen Krise. Sie haben zugelassen, dass ihre Gefühle allmählich erloschen sind. Ihre Konfrontation ist kein Tribunal. Aber Jack plädiert leidenschaftlich für die Wiederbelebung der Nähe, die ihnen abhandengekommen ist. Die heimischen Szenen gehören zu den schwächeren Passagen des Romans, erwachen nun aber zu filmischem Leben, da der amerikanisch offensive Tucci ein temperamentvoller Gegenspieler für die reservierte Thompson ist. Als Jack seine Frau mit der Androhung einer Affäre unter Druck setzen will, stellen ihre Darsteller für einen Moment die Leichtfüßigkeit einer Salonkomödie in Aussicht. Die Kinderlosigkeit des Paars wird so zu einem schwebenden Element der Melancholie, das aber nie als letztgültige Erklärung der Krise dient. Sie verbindet sich diskret mit der zweiten emotionalen Anfechtung, die Fiona zu gewärtigen hat.

Adam, nach der Bluttransfusion auf dem Weg der Besserung, stellt seiner vermeintlichen Lebensretterin nach, bedrängt sie enthusiastisch mit Anrufen und Briefen. Er ist entzaubert – die Religion, um derentwillen seine Eltern ihn geopfert hätten, bietet ihm keinen Halt mehr – und zugleich voller Erwartungen: Fiona soll die Hüterin seines wiedergewonnenen Lebens werden. Sie versucht, gebührenden, „erwachsenen“ Abstand zu wahren, muss aber erkennen, dass es keine Wahrheit ohne Empfinden gibt.

Das Abwägen, wie viel Gefühl man zulässt und offenbart, ist auch die Richtschnur für Richard Eyres Regie. Sein taktvolles Erzähltemperament macht ihn zum idealen Treuhänder von McEwans Drehbuch. Er zwingt ihm keine eigene, unverwechselbare Handschrift auf; keine inszenatorische Geste erhebt sich über den Stoff. Eyre gehört jener britischen Regieschule an, deren Feingefühl in Theater und Fernsehen geschärft wurde. Er ist empfänglich für das atmosphärische Timbre eines Augenblicks: Die lyrische, sinnliche Seite Fionas stellt er heraus, wenn er sie barfuß durch die eheliche Wohnung gehen lässt; dort sind die Wege weiter als bei Gericht.

Info

Kindeswohl Richard Eyre Großbritannien 2017, 105 Min.

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