Eigentlich ist dies der falscheste Ort, um nach der Vergangenheit zu forschen. Sein Untergang ist besiegelt. Einer jahrtausendealten, traditionellen Lebensweise ist an ihm nur noch eine kurze Frist gewährt. Ein Ort, der für Generationen Kontinuität und Geborgenheit bedeutete, ist zu einem Provisorium degradiert. Bald wird diese Heimat nur noch als Motiv auf einer Banknote existieren.
Die Stadt Fengjie wird, nach dem sie mehr als 2000 Jahre existierte, von den Landkarten Südchinas verschwinden, sobald das Gebiet am Yangtse vollends überflutet ist und die Arbeiten am Drei-Schluchten-Staudamm abgeschlossen sind. Nur zwei Jahre wird ihre Zerstörung dann gedauert haben. Die Zeit verrinnt unwiderruflich. Wird sie ausreichen, damit die Menschen noch das Unerledigte, Unerfüllte regeln?
Die todgeweihte Stadt wird in Still Life zu einer schwermütigen, lastenden Kulisse zweier parallel geführter Suchbewegungen. Der Bergarbeiter Sanming will seine Frau wiederfinden, die ihn vor 16 Jahren mit der gemeinsamen Tochter aus Heimweh verlassen hat. Von der Straße, in der sie gewohnt hat, ist nur noch eine Grasnarbe übrig, die Häuser sind abgerissen, nicht einmal ihre Ruinen sind noch unter der Wasseroberfläche zu erkennen. Zur gleichen Zeit versucht die Krankenschwester Shenhong, ihren Ehemann zu finden, der vor zwei Jahren einen Job bei der Abrissbehörde annahm und seit Monaten nicht mehr auf ihre Anrufe antwortet.
Jia Zhang-kes Film handelt von dem was übrig bleibt, von den Orten und den Gefühlen. Er macht eine Verlustrechnung auf. Die Kamera verharrt lange in der vorbehaltlichen Lebenswelt der Figuren, liebevoll erkundet sie die kargen Interieurs, in denen sie ihr Dasein fristen. Mit wenigen Worten und lakonischen Gesten, führt Jia vor, wie auch hier noch Gemeinschaft entstehen kann. Sein Film ist in vier Kapitel unterteilt, deren Überschriften auf Genussmittel als den letzten Freuden im Leben der kleinen Leute verweisen, montiert Zigaretten, Alkohol, Süßigkeiten und Tee zu einem filmischen Stillleben. Der chinesische Originaltitel hingegen lautet übersetzt "Die gute Seele der Drei Schluchten". Der Regisseur zeigt, wie unbehaust sie weiter wesen muss in einem Dekor, das schon einer anderen Realität anzugehören scheint. Stets hat es Jia, der hier zu Lande noch wenig bekannte Protagonist der sechsten Generation chinesischer Filmemacher, verstanden, eine tiefe Resonanz herzustellen zwischen dem Drama seiner Filme und ihren Schauplätzen. Er hat seine nordchinesische Heimatstadt Fenyang in Platform in ihrer Konkretion als Stadtlandschaft wie als Hort sozialer Widersprüche erkundet; in The World symbolisiert die Kulissenwelt eines Themenparks in Peking, wie die moderne Konsumgesellschaft die Menschen verschlingt.
Die Gegend des Yangtse war ihm vor Drehbeginn unbekannt. Ursprünglich wollte er nur einen Dokumentarfilm über den Maler Liu Xiadong drehen (Dong lief gemeinsam mit Still Life letztjährig in Venedig), dessen großformatige Tableaus die brutalen Verwerfungen von Landschaften und Seelen am Yangtse festhalten. Fengjie hat er sich mit kleinen Team auf dem Wasserwege genähert. Die Reise führte durch eine beschauliche Flusslandschaft, entlang sanfter Biegungen und vorbei an wolkenverhangenen Felsen. Jia fühlte sich bei der Passage durch das pastorale Idyll an die klassische chinesische Landschaftsmalerei erinnert, dem indes das Erreichen des Ziels ein jähes Ende setzte. Der Anblick der Verwüstung Fengjies schockierte ihn so sehr, dass er umgehend das Drehbuch zu einem Spielfilm entwickelte, welches er dann parallel zur Dokumentation mit einer Digitalkamera und der Komplizenschaft von Freunden und Verwandten realisierte.
Das Vorgefundene hat so die Fiktion genährt; einige Szenen aus dem Dokumentarfilm sind auch in den Spielfilm eingegangen, ohne je als Fremdkörper zu wirken. Beiden ist eine melancholische Poesie der Beobachtung gemeinsam. Zusammen haben sie kaum 10.000 Euro gekostet. Mithin ist schon ihre Entstehungsgeschichte ein stiller Protest gegen die Monumentalität des Staudammprojektes. Sie führen gleichsam den unmenschlichen Preis, den es kostet - die Million Entwurzelter ist größtenteils verarmt -, auf eine menschliche Dimension zurück.
Dieses Schillern hat sich in den Rhythmus der Bilder übertragen. Im Wechsel von Totalen und Nahaufnahmen gehen das Große und das Kleine eine mulmige Koexistenz ein. Regelmäßig öffnet sich der Blick für Panoramen, deren Komposition an Urlaubsfotos erinnert, auf denen die Personen nicht in, sondern vor einer Landschaft posieren. Die Umgebung ist eine Kulisse, in der sie fremd und verloren sind. Niemand wird hier jemals mehr verwurzelt sein.
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