„An einem schönen Morgen“ von Mia Hansen-Løve: Vater altert, Mutter lästert

Kino Mia Hansen-Løves Film „An einem schönen Morgen“ porträtiert Eltern, für die die eigenen Kinder nicht viel zählten. Eine Geschichte von der Mitte des Lebens zwischen Neubeginn und dem Alltag mit alternden Eltern
Ausgabe 49/2022
Lea Séydoux in Mia Hansen-Løves Film „An einem schönen Morgen“
Lea Séydoux in Mia Hansen-Løves Film „An einem schönen Morgen“

Foto: Les Films Pelléas/Weltkino Filmverleih

Natürlich ist es nicht das Leben, das er sich gewünscht hat. Bis vor einiger Zeit unterrichtete Georg Kienzler noch Philosophie. Er wurde von seinen Studenten bewundert und konnte auf eine lange Liste von Publikationen zurückblicken. Nun fällt es ihm schwer, die richtigen Worte zu finden und sich einen Begriff von den Situationen zu machen, in denen er steht. Das Vertraute ist ihm fremd geworden. An manchen Tagen muss er lernen, wie man eine Tür öffnet.

Georg leidet an dem seltenen Benson-Syndrom, das ihm Augenlicht und Erinnerung raubt. Er ist ein stiller, friedfertiger Patient, der sich von Besuchern und Pflegepersonal fügsam korrigieren lässt. Pascal Greggory spielt ihn als einen höflich Erlöschenden, der sich die Lebensneugier nach Kräften bewahrt. Der Schauspieler legt eine kindliche Zuversicht darein und mitunter meint man, die leise Musik zu hören, die in Georgs Innerem spielt. Françoise (Nicole Garcia), seine geschiedene Frau, war womöglich immer die Robustere, Gewitztere. Die sturmerprobte Alt-68erin, der es noch immer gefällt, bei Demos verhaftet zu werden, ist um kein nüchternes Wort verlegen. Ihr Exmann sei eigentlich immer ein verhinderter Faulenzer gewesen, eröffnet sie den erstaunten Töchtern, sein Fleiß sei nur dem Pflichtgefühl geschuldet gewesen. Eine liebenswürdigere Schmähung wird man in diesem Kinowinter kaum hören.

Mia Hansen-Løve porträtiert in diesem Paar ihre eigenen Eltern, in deren Leben die Kinder nicht viel zählten. Das behauptet zumindest Sandra (Léa Seydoux), die ältere Tochter der Kienzlers, aus deren Perspektive An einem schönen Morgen weitgehend erzählt ist. In diesem hellen, sommerlichen Film ist das kein Trauma und kein Grund zur Abrechnung, sondern eine Erfahrung, die wappnet. Die Dolmetscherin Sandra hat ihr Leben als verwitwete Mutter einer aufgeweckten Tochter bisher patent bewältigt. Nun trauert sie um den Vater und weiß nicht mehr, woran sie festhalten soll. Das Behaustsein ist die schönste Sorge dieses Films, eine Frage, die er vielstimmig und unverzagt an den Alltag stellt. Hansen-Løves Kino ist seit je her lebensgeschichtlich grundiert, jedoch nicht durchweg im Sinne der engherzigen Nabelschau, sondern sehr wohl empfänglich für die Krisen der anderen.

Eingebetteter Medieninhalt

Bei der Suche nach einem geeigneten Pflegeheim, das sich die Familie auch leisten kann, ist die pragmatische Mutter ein Fels. Die Auflösung von Georgs Haushalt wiederum bedeutet vor allem, seine Bibliothek in die richtigen Hände zu geben. Die „transmission“, der Generationenvertrag der Weitergabe, ist als ein unterschwelliges Thema im aktuellen französischen Autorenfilm durchaus ein Zeichen seiner Verbürgerlichung. Es geht nicht um große Vermögen – man lebt in lichten, bescheidenen Wohnungen –, sondern um das Erbe der Lebensdinge. Georgs Bücher werden bei seinen Studenten gut aufgehoben sein. Ohnehin wollen die Verhältnisse in An einem schönen Morgen geordnet sein.

Während ihr Vater langsam verschwindet, erlebt Sandra eine romantische Wiedergeburt. Sie begegnet einem alten Freund wieder, Clément, der als Chemiker einen interessanten Beruf ausübt und den Vorzug hat, von Melvil Poupaud gespielt zu werden. Clément ist unglücklich verheiratet, zerrissen zwischen widerstrebenden Gefühlen, aber der Film nimmt das nicht zum Anlass, ein fiebriges Melodram zu werden. Es entspinnt sich keine Amour fou, sondern eine lebhaft gedämpfte Leidenschaft, die auf Vertrautheit und Entdeckung beruht. Hansen-Løve übereilt nichts, sie lässt der Ungewissheit ihre Zeit: als einer weiteren Facette der Wehmut, die nicht konkurriert mit der existenziellen, die Sandra durchlebt. Vielleicht könnte ihr kleiner, wunderbar praktischer Esstisch genug Platz für drei bieten.

An einem schönen Morgen Mia Hansen-Løve Frankreich 2022, 112 Minuten

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